Roy Jacobsen – „Die Unsichtbaren“

„Der Gegensatz zwischen Meer und Land war immer schon da, in Gestalt einer Unruhe oder einer Sehnsucht.“

Barrøy – eine kleine Insel, die auf keiner realen Karte Norwegens eingezeichnet, sondern „nur“ auf einer literarischen Karte des nordischen Landes zu finden ist. Das von Wind und Meer umtoste, abgelegene wie karge Eiland, einige Ruderstunden vom Festland entfernt, ist Schauplatz der beeindruckenden Romantrilogie „Die Unsichtbaren“ des norwegischen Schriftstellers Roy Jacobsen – und die Heimat von Ingrid, die auf der Insel geboren wird und hier aufwächst, die hier die Zeit des Krieges erlebt, um später ihr Zuhause zu verlassen und sich auf die Spuren eines Mannes zu begeben.

Der Untergang der „Rigel“

Es ist Alexander, ein russischer Kriegsgefangener, den sie während einer langen und kräftezehrenden Wanderschaft voller Begegnungen durch das Land bis nach Schweden sucht. Nach einem britischen Fliegerangriff und dem anschließenden Untergang des Schiffs Rigel im November 1944  erreicht er mehr tot als lebendig Barrøy. Unter norwegischer Flagge und mit norwegische Besatzung diente es der Wehrmacht als Transportschiff. Mehr als 2.700 Menschen starben damals während der größten Schiffskatatrophe des skandinavischen Landes. Ingrid findet Alexander. Sie pflegt ihn, beschützt ihn vor dem Zugriff der deutschen Besatzer. Gefühle und Begehren entstehen. Eines Tages ist der junge Mann jedoch verschwunden. Ingrid bleibt zurück. Neun Monate später bringt sie die gemeinsame Tochter Kaja zur Welt.

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Doch die Trilogie ist weit mehr als nur eine berührende Liebesgeschichte inmitten der grausamen Zeit des Zweiten Weltkriegs. Vielmehr erzählt Jacobsen vom entbehrungsreichen Alltag der Inselbewohner. Ingrids Familie lebt allein auf der Insel, die der Autor an der realen Küste von Helgeland im Norden des Landes ansiedelt. Vater Hans, dem das Eiland gehört, zieht es regelmäßig zum Fischfang auf die nahe gelegenen Lofoten, Mutter Marie und ihre Schwester Barbro sammeln Enteneier und Federn, die in der Handelsstation verkauft werden. Schon als Kind muss Ingrid bei der harten Arbeit mithelfen. Die Familie lebt nahezu abgeschottet vom Rest der Welt mit ihren kleinen wie großen Ereignissen. Nur das Treibgut, das sich immer wieder in den Fischernetzen verfängt, kündet von ihr. Erst als die Insel an die sogenannte Milchroute, eine Fähre, die sowohl Waren bringt als auch mit sich nimmt, angeschlossen wird, ändern sich allmählich die Zeiten. Der harte Alltag mit all seinen Herausforderungen bleibt indes, entsetzliche Schicksalsschläge mehren sich. Die Frauen, allen voran Ingrid, sind es, die schließlich Verantwortung, das Zepter auf Barrøy, übernehmen.

„Aber die Stille auf einer Insel ist nichts. Niemand spricht darüber, niemand erinnert sich daran oder gibt ihr einen Namen, egal, wie stark sie davon betroffen sind. Es ist der kleine Einblick, den sie in den Tod tun können, während sie noch am Leben sind.“

Erstmals bündelt die vorliegende deutschsprachige Ausgabe die beiden bereits hierzulande erschienenen Einzelbände „Die Unsichtbaren“ („De Usynlige“) und „Weißes Meer“ („Hvitt hav“) mit dem noch nicht übersetzten, 2017 im Original erschienenen Abschluss-Band „Rigels øyne“ („Die Augen der Riegel“). Damit entsteht ein Werk, das wohl wie kein zweites einen weiten zeitlichen Bogen von den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg bis in die Zeit nach der anschließenden Weltkatastrophe schlägt – von der Kindheit Ingrids bis in ihre Jahre als Mutter und erfahrene Frau berichtet. Jacobsen, Jahrgang 1954,  setzt mit seiner Heldin, die selbstbewusst und unbeirrbar ihren Weg geht, den Frauen ein besonderes literarisches Denkmal. Zugleich berichtet er von einer Vergangenheit Norwegens, die sich sehr von der modernen Gegenwart unterscheidet, sowie von den Menschen im Krieg: von den Opfern und den Tätern, den Mitläufern und den Männern sowie Frauen im Widerstand gegen die deutsche Besatzung. Jacobsen zeichnet seine Figuren nicht in Schwarz und Weiß. Vielmehr zeigt er auf, wie verschieden sich die Menschen verhalten haben, dass Gutes wie Böses auch einst in kleinen Handlungen entstehen konnte.

Herkunft eines berühmten Jazz-Musikers

Doch nicht allein der im Buch erwähnte tragische Untergang der „Rigel“ ist auf ein reales Ereignis zurückzuführen. In einer Szene, als Ingrid das einstige KZ und spätere Sonderlager für „dismissed persons“ in Mysen, in dem sich nach dem Krieg ehemalige Soldaten, Kriegsgefangene und Kollabarateure aus zahlreichen Ländern versammeln, auf der Suche nach Alexander besucht, wird ein Familienname erwähnt, bei dem Jazzfreunde aufmerken werden: Garbarek. Der norwegische Jazz-Musiker Jan Garbarek wurde als Sohn des polnischen Kriegsgefangenen Czesław Garbarek und der norwegischen Bauerntochter Kari Nilsdotter im März 1947 in Mysen, südöstlich von Oslo gelegen, geboren. Jacobsen lässt so seine fiktive Protagonistin zwei authentische Personen begegnen. Ingrid lernt auf ihrer langen Suche nach Alexander ein Land kennen, das vom Krieg gezeichnet ist. Sie trifft auf Flüchtlinge, die ihre zerbombten  Heimatstädte hoch im Norden des Landes verlassen haben, auf Fluchthelfer, die an der Grenze zu Schweden aktiv sind, auf Schuldige, die unter all den schrecklichen Ereignissen am besten einen Schlussstrich ziehen und vergessen wollen.

„Die Unsichtbaren“ – der erste Teil stand mit seiner englischen Übersetzung auf der Shortlist des renommierten Man Booker Prizes – ist ein Meisterwerk und zugleich ein eindrücklicher Roman gegen das Vergessen – ob es sich dabei um große geschichtliche Ereignisse oder das Leben der einfachen Menschen handelt. Und wer die beeindruckende Landschaft Norwegens liebt, wird bei den imposanten Landschaftsbeschreibungen eine große Sehnsucht, vielleicht sogar eine Art hjemlengsel,  verspüren.

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Roy Jacobsen: „Die Unsichtbaren“, erschienen im Verlag C.H. Beck, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann; 613 Seiten, 28 Euro

Bild von Ansgar Scheffold auf Pixabay

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