Lars Mytting – „Ein Rätsel auf blauschwarzem Grund“

„Unser Leben ist ein Schatten.“ 

Ach, was war es doch für ein schmerzhafter Abschied zum Abschluss des Romans „Die Glocke am See“. Astrid und Gerhard sterben getrennt voneinander, sie bei der Geburt der gemeinsamen Zwillinge, er in seiner sächsischen Heimat an den Folgen einer Lungenentzündung. Doch Lars Mytting schreibt die Geschichte des norwegischen Dorfes Butangen, in dem beide damals ihre Liebe gefunden haben, weiter. In „Ein Rätsel auf blauschwarzem Grund“ begegnen wir erneut Pfarrer Kai Schweigaard, den das tragische Schicksal, der allzu frühe Tod der beiden, geprägt hat. Und wir lernen Jehahns kennen. Der Sohn von Astrid und Gerhard, der angeblich einzig und allein überlebt haben soll, begegnet eines Tages bei der Rentierjagd in den Bergen Victor, einem jungen Schotten, der ihm allzu ähnlich ist.

Getrennt und doch so gleich

Jehahns ist mittlerweile ein junger Mann, den Schweigaard alles nötige Wissen gelehrt hat, der allein durch die Wälder streift und jagt, wenn er nicht für den Großbauern Hekne, seinem Onkel, auf den Feldern und Wiesen schuften muss. Es ist ein beschwerliches und entbehrungsreiches Dasein für viele Menschen am Ende des 19. Jahrhunderts in Norwegen, das damals noch vom Fischfang und der Landwirtschaft gelebt hat. Mit dem Angebot von Victor, ihn nach Schottland zu begleiten, könnte Jehahns mehr erleben, ein Teil der Welt sehen. Doch zwischen beiden Männern, die sich zu Beginn blendend verstanden haben und die eine besondere Verbindung zueinander spüren, kommt es zum Streit. Victor verlässt Hals über Kopf Norwegen. Die Lebenswege der beiden trennen sich. Während Victor das Fliegen erlernt und Pilot wird, baut Jehahns sich an der Seite von Kristine eine Zukunft auf. Sie erwerben ein karges steiniges Stück Land, das sich zwar schwer bewirtschaften lässt, doch sie haben einen unbändigen Ehrgeiz und Willen: Er baut ein Wasserkraftwerk auf, das Strom in das Dorf bringt, sie gründet eine Käserei, die Jahr für Jahr wächst. In den Ort zieht der Fortschritt ein, der das Leben der Menschen spürbar erleichtert.

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Doch die Geschichte mit all ihren Traditionen, Bräuchen und Mythen ist längst nicht vergessen und begleitet die Dorfbewohner. Noch immer liegt in dem See eine der beiden Glocken, die zu Ehren der Hekne-Schwestern einst gegossen worden ist und die nur von sogenannten Folgebrüdern gehoben werden kann. Darüber hinaus ist der Pfarrer auf der Suche nach einem bestimmten Stück Stoff, einem farbenprächtigen Teppich, den die sagenumwobenen Schwester gewebt haben sollen und in dessen Abbildungen die Zukunft zu erkennen ist.

In Teil zwei seiner Schwesterglocken-Trilogie spannt Mytting den Zeitrahmen vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs und den Ausbruch der Spanischen Grippe. Eine entscheidende Zeit, in der Norwegen sich von Schweden löst und schließlich 1905 seine Unabhängigkeit erhält, in der die bunten und regionaltypischen Trachten, Bunad genannt, ihre Geburtsstunde erleben und in der das Land den Grundstein für die Moderne und die künftige Industrialisierung legt. Ging 1882 in Hamn auf der nordnorwegischen Insel Senja das erste große moderne Wasserkraft-Werk des Landes in Betrieb, entstanden in den Folgejahren viele weitere. Heute gewinnt Norwegen rund 96 Prozent des benötigten Energiebedarfs allein aus der Wasserkraft. Das größte der insgesamt rund 1.600 Wasserkraft-Werke befindet sich am Stausee Blåsjø im Südwesten des skandinavischen Landes.

„So, wie die Schnitzereien auf dem Portal der Stabkirche ineinander verschlungen waren, glitten die Muster dieser Weberei ineinander über, ein stetiger Fluss zwischen Lebenszeit und Endzeit, eine Studie in Unergründlichkeit.“

Mytting führt den Leser mit seinem Roman nicht nur ins Gudbrandsdal, wo der Autor selbst auch 1968 geboren wurde. Victor wandelt darüber hinaus in Dresden auf den Spuren von Gerhard und besucht schließlich auch jene Stabkirche, die, in Einzelteilen zerlegt, der talentierte Architekt einst von Norwegen nach Sachsen gebracht hatte, wo sie im Großen Garten wieder aufgebaut wurde und in der die zweite Schwester-Glocke eingebracht wurde. Nicht nur der dortige Kirchendiener Emmerich glaubt, in Victor Gerhard wieder zu erkennen.

Den Roman zeichnet besonders die große Zuneigung Myttings zu seinen Helden aus, in deren Leben sich die Zeit widerspiegelt, die nicht unberührt bleiben von tragischen Ereignissen. Victor erlebt als Pilot das Grauen des Krieges hautnah, die Spanische Grippe wird auch Butangen nicht verschonen. Als Leser fühlt man mit den Figuren. Selbst der im ersten Band kühl und distanziert erscheinende Kai Schweigaard nimmt in diesem Buch nun eine besondere Rolle ein, wird zu einer prägenden Gestalt.

Ganz viel norwegische Seele

„Ein Rätsel auf blauschwarzem Grund“ ist ein wundervoller historischer Roman über den speziellen Kontrast zwischen Tradition und Moderne und über Menschen, die zueinander finden müssen. Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel hat für den Dialekt der Dorfbewohner eine stimmige und überzeugende Übersetzung gefunden. Wie in der Insel-Saga „Die Unsichtbaren“ von Myttings Landsmann Roy Jacobsen ist auch hier ganz viel norwegische Seele zu spüren, erfährt man viel über die Geschichte des Landes und über das Leben der Menschen. Das überaus liebevoll geschriebene Ende weckt nicht nur die Vorfreude auf Band drei. Es zeigt, wie eng Generationen miteinander verbunden sein können – und dass die Jüngeren die Älteren in sich tragen.


Lars Mytting: „Ein Rätsel auf blauschwarzem Grund“, erschienen im Insel Verlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel; 539 Seiten, 26 Euro

Foto von Juliane Liebermann auf Unsplash

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