Anna Seghers – „Der Kopflohn“

„Man sieht nicht an, wer wen frißt.“

Es sind häufig gestellte Fragen: Wie konnte das damals alles geschehen? Wie kam es zum Aufstieg des Nationalsozialismus, zur Machtübernahme Adolf Hitlers am 30. Januar 1933, dieser Begeisterung der Massen, zu diesem menschenverachtenden Fanatismus? Bereits wenige Monate nach diesem folgenreichen Tag, nach dem zwölf Jahre später Deutschland und Europa sowie Teile der Welt in Schutt und Asche lagen und Millionen Menschen ihr Leben verloren haben, erschien der Roman „Der Kopflohn“. Darin schildert Anna Seghers (1900 – 1983) die Ereignisse um die Reichstagswahl im Sommer 1932. Schauplatz ist ein fiktives Dorf in ihrer rheinhessischen Heimat.

Als die ersten Hakenkreuz-Fahnen wehen

Oberweilerbach heißt dieser kleine Ort, in dem jeder jeden kennt. Eines Tages kommt mit Johann Schulz ein Fabrikarbeiter aus Leipzig ins Dorf, der von dem Bauer Andreas Bastian, einem entfernten Verwandten, und seiner Familie aufgenommen wird. Der junge Mann hilft, wo er kann – für Kost, Logis und das Gefühl, ein Zuhause gefunden zu haben. Keiner kennt dessen Vergangenheit, die auch zuerst einmal kein Gesprächsthema im Ort ist. Vielmehr treibt die meisten Bauer die Sorge ums Geld um, formiert sich um SA-Gruppenführer Christian Kunkel eine Gruppe dunkelgekleideter Männer. Er ist es, der die ersten Hakenkreuz-Fähnchen ins Dorf „pflanzt“ und versucht, die jungen Bauernsöhne an sich zu binden. Im Wirtshaus, das später Wahllokal wird, laufen die Fäden zusammen, selbst der Pfarrer rührt die Werbetrommel für Kunkels Truppe. Man erzählt sich von Messerstechereien und Schlägereien mit dem roten Rudel. Eines Tages fällt dem Bauer Algeier bei seinem Besuch in der Stadt Billingen ein Fahndungsplakat ins Auge. Gesucht wird ein KPD-Anhänger, der auf einer Demonstration einen Polizisten erstochen haben soll. Für Hinweise auf den Täter sind 500 Mark als Belohnung ausgesetzt. Algeier wird indes nicht der Einzige sein, der das Plakat entdeckt und darauf den Fremden erkennt. Bis sich die Ereignisse schließlich überschlagen – weil das Geld lockt. Oder ist es Rache?

Seghers

Seghers schildert eine düstere Dorfgemeinschaft, die Atmosphäre ist kalt und beklemmend. Den meisten Bauern geht es finanziell schlecht, sie können die Kredite nicht mehr bezahlen. Die Männer machen den Frauen das Leben zur Hölle. Blutjunge Frauen werden verheiratet beziehungsweise an befreundete Bauern oder andere Einwohner im Dorf schlichtweg „verschachert“. Die Ehefrau von Bauer Schüchlin wählt den Freitod, ertränkt sich kurz nach der Geburt ihres Kindes im Dorfbach, um den fürchterlichen Schikanen ihres Mannes zu entgehen; dem ist der Tod seiner Frau egal. In den wenigsten Beziehungen zwischen den Dorfbewohnern ist trotz der schwierigen Lage Empathie und Mit-Menschlichkeit zu spüren. Jeder versucht, sich selbst der nächste zu sein.

„Der abendlichen Dorfgasse waren klitsch klatsch drei Fahnen aufgestempelt. Für die Augen der Kinder, die erstaunt in das plötzlich veränderte Dorf hineinsahen, hatten die großen Kreuze etwas Zupackendes, Einschnürendes, Hände an den Armen.“

Seghers entwirft ein sehr detailreiches und bildhaftes Dorfpanorama und beschreibt sehr genau den harten Alltag der Landwirte und ihrer Familien sowie mit psychologischem Gespür und Menschenkenntnis das Wesen der einzelnen Protagonisten. Es erschüttert zunehmend, in jene dunklen Seelen zu sehen, die die Aufstieg der Rechten nicht hinterfragen und die Gewalt in Kauf nehmen, sondern sich vielmehr bessere Zeiten für sich selbst versprechen, auf das Gute hoffen.  Andere wollen es sich mit „denen“ nicht verderben, die zunehmend eine Kulisse der Bedrohung und Einschüchterung aufbauen, wie vor allem die Ereignisse rund um die Reichstagswahl zeigen.

1933 im Exil-Verlag erschienen

Der in der Werkausgabe erschienene Band enthält einen umfangreichen Anhang, der unter anderem auch einen wissenswerten Kommentar von Ute Brandes und Carsten Jakobi beinhaltet, in dem die beiden Verfasser auf den Inhalt, die Entstehungsgeschichte und die weitere Rezeption des Buches eingehen. „Der Kopflohn“ erschien im Herbst 1933 als zweiter Roman von Anna Seghers, es ist ihr erster Roman, der in Deutschland angesiedelt ist und deutsche Verhältnisse schildert. Die Autorin war einer der ersten Schriftstellerinnen und Schriftsteller, zu denen Fritz H. Landshoff, Verleger des in Amsterdam ansässigen Exil-Verlags Querido, Kontakt aufnahm. Später wird der Verlag die Bücher zahlreicher weiterer namhafter Autoren und Autorinnen wie Klaus und Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger und Ernst Toller veröffentlichen und eine verlegerische Heimat für eine Vielzahl an Exil-Schriftstellern sein.

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Anna Seghers, 1966 (Foto: Bundesarchiv)

Mit dem Schreiben des Romans hatte Seghers noch in Deutschland begonnen, um ihn in Frankreich schließlich zu vollenden, das sie nach ihrer Flucht und Aufenthalten in Stuttgart und Zürich erreicht hat, nachdem bereits ihr Mann László Radványi (später Johann Lorenz Schmidt), Direktor der Marxistischen Arbeiterschule, Deutschland verlassen hatte. Zuvor war sie in Berlin festgenommen und wieder freigelassen worden. Ihre Bücher wurden im Mai 1933 verbrannt. Zu ihren bekanntesten Werken zählen die Romane „Das siebte Kreuz“ und „Transit“, die 1942 beziehungsweise 1944 erschienen waren. Erst 1947 kehrte Seghers, die sich als Gründerin des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller in Paris für ihre schreibenden Kollegen und Kolleginnen eingesetzt hat, von Mexiko nach West-Berlin zurück, um schließlich 1950 nach Ost-Berlin und damit in die 1949 gegründete DDR überzusiedeln.

„Der Kopflohn“ bereitet eine anspruchsvolle Lektüre. Nicht nur, weil die Autorin eindrückliche und erschütternde Szenen entwirft, die die gesellschaftliche Stimmung wenige Monate vor Beginn des Dritten Reiches sehr klar aufzeigen und als Warnung zu verstehen sind. Darüber hinaus ist Seghers Stil zwar vorwiegend klar, sachlich und prägnant, allerdings weist sie regional- und zeittypische Wendungen, die heutigen Lesern etwas fremd erscheinen, sowie religiöse Motive auf; im Anhang finden sich Anmerkungen und Erläuterungen dazu. Mit der Neuausgabe als Teil der Werkausgabe lässt sich damit ein frühes Werk der Schriftstellerin neu oder wieder entdecken, die auch über Schullektüre, Neu-Verfilmungen und Theater-Aufführungen hinaus – eine Inszenierung nach dem Roman „Der Kopflohn“ brachte Regisseur K. D. Schmidt 2015 zu den Ruhrfestspielen in Recklinghausen sowie im Staatstheater Mainz auf die Bühne – mehr Aufmerksamkeit erfahren sollte. Wann gibt es die Seghers-Renaissance?


Anna Seghers: „Der Kopflohn. Roman aus einem deutschen Dorf im Spätsommer 1932“, erschienen im Aufbau Verlag, Bandbearbeitung von Ute Brandes und Carsten Jakobi und Mitarbeit von Hans Berkessel, Teil der Werkausgabe, herausgegeben von Helen Fehervary (The Ohio University) und Carsten Jakobi (Johannes-Gutenberg-Universität Mainz); 230 Seiten, 34 Euro

Foto: freephotocc/pixbay

2 Kommentare zu „Anna Seghers – „Der Kopflohn“

  1. Sehr geehrte Frau Matthes,
    vielen Dank für Ihre kundige Besprechung des Buches ‚Der Kopflohn‘. Die Seghers-Renaissance gibt es längst. Vor allem seit 2015 können wir als Anna-Seghers-Gesellschaft eine zunehmende Beschäftigung mit ihrem Werk, v.a. den Romanen Transit (vgl. den Film von Christian Petzold), Das siebte Kreuz und Der Kopflohn sowie der Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen feststellen. Dies hat sicher mit den Fragen der weltweiten Fluchtbewegungen, der Beschäftigung mit der Lokalgeschichte sowie dem Aufkommen rechtspopulistischer Parteien und Ideologien zu tun.
    Hans-Willi Ohl
    Vorsitzender der Anna-Seghers-Gesellschaft

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