„Sie will die Welt schreibend verändern“ – Ein Gespräch über Anna Seghers mit Hans-Willi Ohl

Ihre Werke sind Klassiker. Wer sich mit der Literatur des 20. Jahrhunderts, vor allem mit der Exilliteratur, beschäftigt, kennt sie. Für viele wohl unvergessen: die Lektüre ihrer Romane „Das siebte Kreuz“ oder „Transit“. Anna Seghers zählt zu den bekanntesten Autorinnen ihrer Zeit. Ihre Werke werden weiter gelesen und aufgelegt. Mit dem Vorsitzenden der Anna-Seghers-Gesellschaft, Hans-Willi Ohl, kam „Zeichen & Zeiten“ ins Gespräch – über ihr Werk, ihr Erbe und die Arbeit der Gesellschaft.

Sie sind Vorsitzender der Anna-Seghers-Gesellschaft. Wie sind Sie zu diesem Amt, allgemein zu diesem Verein einst gekommen?

Hans-Willi Ohl: Ich habe in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre in Frankfurt am Main Germanistik studiert. Damals haben sich nur wenige Professorinnen und Professoren mit dem Thema Exilliteratur beschäftigt. Über einen ehemaligen Häftling des KZ Osthofen bei Worms bin ich auf den Roman „Das siebte Kreuz“ gestoßen und habe darüber 1979 meine Staatsexamensarbeit geschrieben. Als 1991 die Anna-Seghers-Gesellschaft gegründet wurde, habe ich zu den Gründungsmitgliedern gehört und mehr oder weniger regelmäßig die Jahrestagungen besucht. Später bin ich dann in den Vorstand und 2013 zum Vorsitzenden gewählt worden.

Die Gesellschaft ist erst 1991 gegründet worden, wie Sie gerade bemerkt haben. Das ist im Verhältnis zu anderen Vereinen, die sich Autorinnen und Autoren jener Zeit widmen, doch recht spät. Was war der Grund?

Nach 1989 war bezüglich der öffentlichen Wahrnehmung von Seghers eine neue Situation entstanden. Während ihr Werk zuvor in der DDR zum literarischen Kanon gehörte und in der BRD zumindest in großen Teilen präsent war, war nun eine Absetzbewegung zu beobachten. Ostdeutsche Betriebe legten ihren Namen ab, der Berliner Senat erwog, ihr die Ehrenbürgerschaft zu entziehen und ihre Texte wurden aus den schulischen Lehrplänen gestrichen.

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Hans-Willi Ohl (Foto: Ellen Eckhardt)

Vor diesem Hintergrund wurde im Oktober 1991 die „Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz e.V.“ gegründet. Ihr Zustandekommen verdankte sie den Kindern der Autorin, Pierre Radvanyi (1926 – 2021) und Ruth Radvanyi (1928 – 2010), sowie engagierten Menschen im Osten und im Westen Deutschlands, die in den Turbulenzen des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses dafür sorgen wollten, dass Leben und Werk von Seghers im Bewusstsein der Öffentlichkeit präsent bleiben und nicht in Vergessenheit geraten sollten. Ein neues, differenziertes und vielfältiges Seghers-Bild mit Pro und Contra sollte entstehen. Die Gründung der Gesellschaft ist somit im Kontext der damaligen kulturpolitischen Debatten insgesamt und der um Anna Seghers im Besonderen zu sehen.

Welchen Zielen hat sich die Gesellschaft verpflichtet? Und mit wem arbeitet sie zusammen?

Die Gesellschaft widmet sich vor allem dem Studium und der Verbreitung des Werkes von Anna Seghers, der Pflege ihres Nachlasses und der Erinnerung an ihr Leben. Sie dient der Zusammenarbeit aller an ihrem Werk Interessierten und wirkt eng zusammen mit der Anna Seghers-Stiftung, dem Anna-Seghers-Archiv und dem Anna-Seghers-Museum in Berlin. Neben den Kontakten zu anderen literarischen Gesellschaften, wie zum Beispiel der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft oder der Christa-Wolf-Gesellschaft, gibt es eine enge Kooperation mit der ALG, der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten, die auch Projekte und Veranstaltungen finanziell fördert.

Wofür steht die Autorin? Weshalb wird ihr Schaffen noch immer gewürdigt?

In der Literatur von Anna Seghers, die 1928 Mitglied in der Kommunistischen Partei wurde, stehen stets der Mensch und seine soziale Lage im Mittelpunkt. Ausgehend von einem humanistisch geprägten Menschenbild will sie die Welt schreibend verändern. Immer wieder thematisiert sie die weltweiten Bemühungen und Kämpfe von Menschen für Freiheit und Gerechtigkeit. Es sind Menschheitsthemen, die auch heute noch Leserinnen und Leser stark bewegen. Ihre Texte vermitteln Denkanstöße und bringen Reflexionsprozesse in Gang.

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Anna Seghers (Foto: Aufbau Verlag)

Gibt es noch weiße Flecken in der Seghers-Forschung?

Die Anna-Seghers-Gesellschaft bemüht sich darum, in jedem Jahr ein Thema für die Jahrestagung zu finden, das in der Forschung noch nicht bis in alle Details ausgeleuchtet worden ist. Auf diese Weise sind seit 1992 viele Mosaiksteine hinzugekommen, die den Blick auf Leben und Werk von Anna Seghers geweitet haben. In den letzten Jahren waren dies beispielsweise die Themen „75 Jahre ‚Das siebte Kreuz'“, „Anna Seghers und Bertolt Brecht“ oder „Begegnungen mit Anna Seghers“. So ergeben sich immer wieder neue Erkenntnisse und Einsichten, aber auch bisherige Standpunkte werden kritisch geprüft und weiterentwickelt.

Sie haben in Ihrem Kommentar zu meiner Besprechung von „Der Kopflohn“ geschrieben, dass eine Renaissance bereits begonnen hat. Woran machen Sie das fest?

Seit 2015 ist das Thema Flucht in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion gerückt. Anna Seghers hat dies unter anderem in ihrem Roman „Transit“ (1944) angesprochen, in dem sie die eigene Flucht von Frankreich nach Mexiko literarisch verarbeitet hat. Seit 2015 sind mehr als zehn eigenständige Inszenierungen dieses Romans auf deutschsprachigen Bühnen entstanden. Höhepunkt war die Verfilmung des Stoffes durch den bekannten Regisseur Christian Petzold im Jahr 2018.

Durch das Aufkommen des Rechtspopulismus sowie antisemitischer und rassistischer Tendenzen haben auch die Romane „Der Kopflohn“ und „Das siebte Kreuz“ eine starke Beachtung erfahren. „Das siebte Kreuz“ wurde auf den Bühnen in Frankfurt/M., Oberhausen und Magdeburg inszeniert, und die Initiative „Frankfurt liest ein Buch“ hat sich 2018 zwei Wochen lang in vielen Veranstaltungen mit dem Roman befasst. Der Schauspieler Martin Wuttke hat das Werk komplett als Hörbuch eingelesen. Der Roman „Der Kopflohn“ wurde am Staatstheater Mainz inszeniert, 2021 erschien der Roman im Rahmen der Werkausgabe, Sie haben ihn besprochen. Gerade vor dem Hintergrund des regionalen Bezugs hat das Staatstheater in Mainz einen Audio-Walk herausgegeben, mit dem man sich in Mainz auf die Spuren der Erzählung „Der Ausflug der toten Mädchen“ begeben kann.

Im Jahr 2020 ist in den USA ein umfangreicher Sammelband mit Texten zu Anna Seghers unter dem Titel „The Challenge of History“ herausgekommen, in der Bundesrepublik erschien das gewichtige „Anna Seghers-Handbuch“ mit vielen Aufsätzen zum Werk und zu den Themen von Anna Seghers. Im gleichen Jahr kamen zudem zwei Bücher zum Exil von Anna Seghers in Mexiko heraus, einmal „Im Schutz von Adler und Schlange“ von Monika Melchert sowie „Brennendes Licht“ von Volker Weidermann. Hinzu kommen Neuübersetzungen ihrer wichtigen Werke, zum Beispiel in den USA, in Frankreich und in Schweden. Schließlich wird am 11. April unter dem Titel „Und habt ihr denn etwa keine Träume“ im Aufbau Verlag ein Band mit Erzählungen erscheinen, die von dem Schriftsteller Ingo Schulze ausgewählt und eingeleitet wurden.

Ich habe „Das siebte Kreuz“ früher im Unterricht gelesen. Wie verbreitet ist das Wissen um diesen Klassiker und die Autorin in der Jugend?

Der Roman ist heute im Deutschunterricht keine Pflichtlektüre. Es bedarf engagierter Lehrerinnen und Lehrer, um den Text jüngeren Leserinnen und Lesern (oft auch in Auszügen) nahezubringen. An den beiden Schulen in Mainz und Berlin, die den Namen von Anna Seghers tragen, machen engagierte Kolleginnen und Kollegen regelmäßig die Schülerinnen und Schüler mit dem Werk von Anna Seghers bekannt. Oft erwachsen daraus Projekte, die zum Beispiel auf den Jahrestagungen der Gesellschaft vorgestellt werden.

Mit welchem Werk sollte man beginnen, wenn man sich mit dem Schaffen der Autorin beschäftigen will?

Ich empfehle, mit dem Roman „Das siebte Kreuz“ zu beginnen. Zwar ist die formale Struktur etwas kompliziert, aber es ist im Kern eine packende und spannende Fluchtgeschichte.

Viele Vereine haben Nachwuchssorgen. Wie sieht es bei Ihnen aus?

Trotz der generell schwindenden Bereitschaft, sich in Vereinen und Verbänden zu organisieren, haben wir immer wieder auch Neueintritte in der Gesellschaft. Neben allgemein literarisch interessierten Menschen handelt es sich dabei oft um Personen aus den Bereichen Schule und Hochschule, die sich mit dem Werk von Anna Seghers befassen.

Was sind die großen Herausforderungen für eine literarische Gesellschaft gegenwärtig und in der Zukunft?

Die Herausforderung besteht – nicht nur für literarische Gesellschaften – darin, immer wieder Menschen zu finden, die sich ehrenamtlich für eine Sache engagieren. Das ist mitunter sehr zeitaufwendig, macht aber auch insgesamt viel Freude, vor allem dann, wenn man Projekte oder Veranstaltungen durchführt, die in der Öffentlichkeit positiv aufgenommen werden. Die Gesellschaft hat immer davon profitiert, dass die Kinder von Anna Seghers engagiert mitgearbeitet haben. Wir sind sehr froh, dass nach dem Tod von Pierre Radvanyi, der im letzten Jahr im Alter von 95 Jahren gestorben ist, sein Sohn Jean Radvanyi diese Arbeit nahtlos fortsetzen wird.

Auch Sie nehmen als Gesellschaft klare Stellung zum aktuellen Krieg in der Ukraine…

Wie alle vernünftigen Menschen verurteilen wir den Angriff der Truppen der Russischen Föderation auf die Ukraine. Anna Seghers hat sich schon in den 1930er-Jahren gegen Nationalismus und Krieg ausgesprochen. Angesichts der schrecklichen Folgen des Zweiten Weltkriegs und der zerstörerischen Wirkung der Atombombe hat sie 1950 im sogenannten „Stockholmer Appell“ deren Verbot und die Ächtung dieser Waffe gefordert. Wir sind als Gesellschaft heute der Meinung, dass ein Drehen an der Rüstungsspirale keinen langfristigen Frieden bringen wird. Stattdessen treten wir für eine neue Entspannungspolitik ein, um Großmachtstreben, Chauvinismus und Rassismus in allen Ländern entgegenzutreten.

Wie sehen die Mitglieder die zunehmende Ausbreitung von Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus?

Das sehen wir alle mit sehr großer Sorge. Anna Seghers, die eigentlich Netty Reiling hieß, stammte aus einem jüdischen Elternhaus, ihr Vater starb 1940, ihre Mutter wurde 1942 in ein Vernichtungslager nach Polen deportiert und dort ermordet. Ihr ganzes Leben lang hat sich Anna Seghers in ihren Texten gegen faschistische, rassistische und antisemitische Bestrebungen gewendet. Diesem Erbe sehen wir uns verpflichtet.

 Was ist Ihr Lieblingsbuch von Anna Seghers?

Da möchte ich keinen der großen Romane nennen, sondern die Erzählung „Das wirkliche Blau“, die Anna Seghers 1967 in der DDR geschrieben hat. Sie spielt in Mexiko, einem Land, in dem die Autorin und ihre Familie Asyl bekommen und Schutz gefunden haben. Der Töpfer Benito Guerrero muss in der Zeit des Zweiten Weltkriegs aufgrund von Lieferschwierigkeiten auf seine bisher verwendete blaue Farbe verzichten. In einer Art Road-Movie begibt er sich auf eine Reise in unbekannte Regionen, um ein entsprechendes Äquivalent zu finden, was ihm am Ende gelingt. Die Geschichte ist nicht nur eine Parabel auf den Künstler an sich, sondern stellt auch die spannende Frage nach dem „Unfaßbare(n), das in der Kunst enthalten ist.“ (Anna Seghers)

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