Roy Jacobsen – „Die Kinder von Barrøy“

„(…) sie sieht, wie alles in Auflösung übergeht, die Zerbrechlichkeit des Lebens.“ 

Øy – ein kleines Wort, aus nur zwei Buchstaben bestehend, bezeichnet doch eine ganze Welt. „Øy“ heißt aus dem Norwegischen ins Deutsche übersetzt „Insel“. Auf das fiktive Eiland Barrøy, das auf keiner Landkarte verzeichnet ist, allerdings symbolisch für viele norwegische Inseln stehen könnte, entführt Roy Jacobsen mit seiner meisterhaften Insel-Saga, die nun mit dem Roman „Die Kinder von Barrøy“ („Bare en mor“) ihre Fortsetzung findet und von der Zeit nach dem Krieg erzählt.

Ein Kommen und ein Gehen 

Für die Leser und Fans der Saga gibt es eine Wiederbegegnung mit Ingrid. Sie ist auf der Insel aufgewachsen, traf mit dem russischen Kriegsgefangenen Alexander, der nach einer verheerenden Schiffskatastrophe während des Krieges verletzt an den Strand gespült wurde, ihre große Liebe. Mit ihrer kleinen Tochter, die aus dieser kurzen, jedoch innigen Beziehung entstand, machte sie sich später auf eine lange Suche nach ihm. All das und noch viel mehr erzählen die drei Bände „Die Unsichtbaren“, „Weißes Meer“ und „Die Augen der Rigel“, die der C.H. Beck-Verlag 2019 erstmals in einem Buch unter dem Titel „Die Unsichtbaren“ zusammenführte; der erste Teil stand mit seiner englischen Übersetzung auf der Shortlist des renommierten Man Booker Prize.

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Mittlerweile ist Ingrid die „Herrin“ der Insel, umgeben von einer bunten Schar aus Frauen und Männern sowie Kindern jeglichen Alters und jeglicher Herkunft. Sie ist Mutter, hält die Fäden zusammen, sie ist stark und verletzlich zugleich. Eines Tages erfährt die Gruppe Zuwachs. Der kleine Mattis, der bereits von seiner Mutter verlassen wurde, später den Namen Mathias erhält, verliert auch seinen Stiefvater,  als der aufs Meer hinausfährt und nicht mehr gefunden wird. Ingrid nimmt den Jungen unter ihre Fittiche, mit Hilfe des Pfarrers Samuel wird sie sogar dessen Adoptivmutter; allerdings mit dem Wissen, dass sein Vater, ein Soldat, noch in Deutschland lebt. Die Jahreszeiten wechseln sich ab, die Jahre vergehen. Für die Kinder – Mathias und Ingrids Tochter Kaja werden enge Freunde –  eine Zeit des Aufwachsens, für die älteren Bewohner eine Zeit der stetigen Abschiede. Denn die Männer und Jugendlichen zieht es zu den Lofoten – zu Fischfang und Schule. Ingrids Pflegetochter Suzanne wird in die Stadt geschickt, um später in Oslo heimisch zu werden. Menschen gehen, Menschen kommen. Und wenn es der Pastor oder der Bürgermeister ist.      

„Sie dachte an ihre Mutter, die das Geschrei der Kinder einst als Lieder Gottes bezeichnet hatte. Sie dachte an den Tanz des Wals in der Tiefe und hörte die Mutter von der Kunst des Weinens erzählen; nur in Einsamkeit kommen die Tränen zu ihrem Recht.“ 

Noch immer zeigt sich Barrøy als eine abgelegene, karge Insel, auf der Ingrid nach ihrer großen Suche nach Alexander fest verortet ist. Mit Boot oder Schiff fahren die Bewohner einkaufen, die Post holen; so erhält Ingrid regelmäßig Briefe und Päckchen von Marianne Vollheim, die ebenfalls Alexander liebt und eines Tages mit ihrer Tochter, die ebenfalls den Namen Ingrid trägt, die Insel besucht. Landwirtschaft und Fischfang bestimmen das Leben, das auch in Friedenszeiten hart, voller Entbehrungen und nicht ohne Schicksalsschläge ist. Eines dieser tragischen Ereignisse ist der Untergang des Schiffes Salthammer, die die Gemeinschaft erschüttert. Doch dieses einfache Dasein mit seinen Anstrengungen leben Ingrid und ihre große Familie mit sehr viel Würde und vor allem Liebe zu ihrer Heimat, egal wie winzig und  abgelegen das kleine, von Meer umgebene Land ist, wie oft es von Sturm umtost wird. Eine Kraft, der man, in der modernen, überwiegend bequemen Welt lebend, Respekt zollen sollte; zumal sich das heutige Norwegen dank seiner reichen Ölvorkommen seit den 1960er-Jahren zum reichsten Land der Erde und zu einem Wohlfahrtsstaat entwickeln konnte. 

Norwegische Seele zu spüren 

Es ist ein stiller Roman, eine vergangene Zeit, die Jacobsen beschreibt. Und das stets mit sehr viel Zuneigung zu seinen Protagonisten und sehr viel Sprachgefühl. Eine der wohl magischsten Szenen ist jene, als die Bewohner bei einem Ausflug mit dem Schiff auf Wale treffen, die sie begleiten. Mensch und Natur sind die großen Themen, die sich sehr oft in der norwegischen Literatur finden lassen. Man hat das Gefühl, ein mal warmer, mal kühler Hauch des nordischen Landes durchweht dieses Buch, in dem wie ich finde, die norwegische Seele zu Hause ist. Darüber hinaus spricht Jacobsen, 1954 geboren und für sein Schaffen vielfach preisgekrönt, weitere Themen an: der Kontrast Land und Stadt, der Zauber des Briefeschreibens, die historischen Folgen des Krieges und der deutschen Besatzung, die bis in die Gegenwart reichen. So weist der Norweger auch auf das ausgrenzende Verhalten der Bevölkerung gegenüber norwegischen Frauen hin, die eine Beziehung zu deutschen Besatzern aufnahmen. Ein Kapitel norwegischer Geschichte, das seit einigen Jahren aufgearbeitet wird. 2018 entschuldigte sich die norwegische Regierung offiziell für die schlechte Behandlung dieser Frauen. Edvard Hoem hat darüber in seinem Roman „Die Geschichte von Mutter und Vater“ geschrieben.

Wer „Die Kinder von Barrøy“ lesen möchte, dem sei indes empfohlen, vorab die Vorgeschichte kennenzulernen. Immer wieder geht der Erzähler auf frühere Ereignisse ein, ohne sie ausführlich noch einmal zu beschreiben.  Doch die Lektüre der Saga, in der der Autor auch die Geschichte seiner Familie verarbeitet und vor allem die Bedeutung der Frauen herausstellt, lohnt sich ungemein.  Es wäre sehr zu wünschen, dass Jacobsen diese Reihe weiterführt, quasi eine literarische Geschichte seines Heimatlandes schreibt. Vor zwei Jahren erschien mit „Mannen som elsket Sibir“ (übersetzt: „Der Mann, der Sibirien liebte“) erst einmal ein Roman über den deutschen Naturforscher und Tierpfleger Fritz Dörries (1852 – 1953), den Jacobsen mit seiner Frau Anneliese Pitz geschrieben hat. 

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „LiteraturReich“.


Roy Jacobsen: „Die Kinder von Barrøy“, erschienen im Verlag C.H. Beck, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann; 270 Seiten, 24 Euro

Foto von Alexandr Bormotin auf Unsplash

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