Sorj Chalandon – „Verräterkind“

„Aber was warst du dann, Papa?“

Als der gefürchtete Ex-Gestapo-Chef Klaus Barbie im Frühjahr und Sommer 1987 im Lyoner Justizpalast auf der Anklagebank sitzt, hat Sorj Chalandon, Auslandskorrespondent der französischen Tageszeitung Libération, in den Reihen der akkreditierten Reporter Platz genommen. Sein Vater verfolgt die öffentlichen Gerichtsverhandlungen als Zuschauer. Die Resonanz auf den Prozess ist riesig. Derweil eskaliert zwischen Vater und Sohn ein Konflikt. Chalandon erhält Informationen über die Vergangenheit seines Vaters, der über seine Rolle im Zweiten Weltkrieg seine Familie belogen hat. Mit seinem neuen autofiktionalen Roman „Verräterkind“ führt der Franzose sowohl in die 80er-Jahre und in die Zeit der deutschen Besatzung als auch in seine eigene Familiengeschichte.

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Marica Bodrožić – „Die Arbeit der Vögel“

„In Träumen, Büchern und in den Bergen waltet eine archaische Stille.“

Ein Geisteswissenschaftler wie Freund der Literatur und Philosophie kommt an seinem Namen und seinem Werk nicht vorbei. Er war ein Schreibender, ein Denker, ein Linker und ein ruheloser Reisender. Walter Benjamin zählt (1892 – 1940) wohl zu den tragischen Lichtgestalten des 20. Jahrhunderts. In seiner Besprechung über eine neu erschienene Biografie nennt Jörg Später ihn eine Jahrhunderterscheinung. Marica Bodrožić ist mehr als sieben Jahrzehnte später seinen letzten Weg gegangen – von Frankreich aus über die Pyrenäen ins spanische Port Bou, wo Benjamin am 27. September 1940 an einer Überdosis Morphium starb. In ihrem eindrücklichen Band „Die Arbeit der Vögel“ schreibt sie über ihre Tour – und über noch viel mehr. „Marica Bodrožić – „Die Arbeit der Vögel““ weiterlesen

Fabrice Humbert – „Der Ursprung der Gewalt“

„Die Gewalt hat mich nie verlassen.“

Ein Foto verändert das Leben von Nathan Fabre. Der junge Lehrer für Literatur besucht mit Schülern die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Buchenwald bei Weimar; keine deutsche Stadt vereint in seiner Geschichte Hochkultur und tiefste dunkle Grausamkeit. Ein Mann auf jener Aufnahme sieht seinem Vater unglaublich ähnlich. Fabre begibt sich auf Spurensuche und lüftet ein Familiengeheimnis, das unter dem Schweigen seiner Vorfahren für ihn verborgen geblieben war. Der Schriftsteller Fabrice Humbert verbindet in seinem preisgekrönten autobiografisch geprägten Roman auf beeindruckende Art und Weise französische mit deutscher Geschichte, Facetten seiner eigenen Familienhistorie mit Fiktion.

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Santiago Amigorena – „Kein Ort ist fern genug“

„Wir sind Juden. Ich bin Jude. Aber wir wissen nicht, was das bedeutet. Nicht einmal ansatzweise.“

Ein ganzer Kontinent und ein Ozean trennen sie. 1928 hat Vicente Rosenberg Polen verlassen und ist nach Argentinien ausgewandert. In der Heimat zurückgeblieben sind seine Mutter und seine Geschwister. Von der Ferne muss er mit ansehen, wie die jüdische Bevölkerung bedroht wird, der Krieg beginnt, Ghettos entstehen.  Der Autor und Filmemacher Santiago Amigorena hat mit „Kein Ort ist fern genug“ ein erschütterndes und wichtiges Buch über die Shoah aus einer anderen Perspektive geschrieben – aus der der Überlebenden, die bereits vor dem Grauen Europa verlassen hatten, aber trotzdem von dem unfassbaren Verbrechen gezeichnet, ja unwiderruflich traumatisiert sind. „Santiago Amigorena – „Kein Ort ist fern genug““ weiterlesen

Christoph Heubner – „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“

„(…), wir brauchen keine Worte, das Wissen war in uns eingesickert wie Blut in die Erde.

Dieser Ort, Sinnbild für millionenfaches Sterben und Leid, wird im Text kein einziges Mal erwähnt. Sein Name findet sich nur in der Unterzeile des Buches. Selbst wenn dieser schmale Band keine Überschrift tragen würde, könnte der Leser wohl bereits anhand der ersten der insgesamt nur drei Geschichten erkennen, wovon dieses Buch handelt. Es sind Geschichten über Auschwitz und den Holocaust, die trotz ihrer Kürze und ihrer wenigen Protagonisten beziehungsweise Stimmen Symbol für das noch immer unvorstellbare und unerklärbare Grauen inmitten des 20. Jahrhunderts sind. Wer diesen Band mit dem langen Titel „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“ von Christoph Heubner zur Hand nimmt und liest, wird erschüttert sein. „Christoph Heubner – „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen““ weiterlesen

Frédéric Brun – „Perla“

„Mein Schmerz lässt mich verstehen, dass der eigentliche Lebensweg ins Innere führt und Perla in mir ist.“

Am 31. Juli 1944 setzt sich von Frankreich aus der Konvoi 77 mit rund 1.300 Personen, darunter mehrere Hundert Kinder, in Bewegung. Das Ziel: das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Unter ihnen: Perla, eine junge, lebenslustige und attraktive Frau. Sieben Monate lang durchleidet sie die unerbittliche Gewalt, Qualen, Hunger. Sie sieht andere sterben, riecht den Geruch der Verbrennungsöfen, hört die Schreie und das Stöhnen. Perla überlebt und kehrt nach Frankreich zurück, ihre Erlebnisse brennen sich als Schmerz in ihr Innerstes ein. Gepaart mit einer unauslöschlichen Angst verursacht dieser starke Depressionen.  Frédéric Brun hat ein Buch über seine Mutter geschrieben, ein nur schmaler, indes preisgekrönter Band, der Worte für das Unfassbare findet und den Leser tief berührt und prägt. „Frédéric Brun – „Perla““ weiterlesen

Simon Stranger – „Vergesst unsere Namen nicht“

„M wie das Monster, das in jedem von uns ruht.“ 

Ihre Spur zieht sich durch ganz Europa. Es gibt wohl keine größere Stadt, in der sie nicht zu finden sind. Die Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig sind Kunstwerk und Mahnmal zugleich. Sie erinnern in nunmehr bereits 24 Ländern an Menschen, die während des Nationalsozialismus verhaftet, deportiert und ermordet oder in den Freitod getrieben worden sind. Auch in der norwegischen Stadt Trondheim gibt es jene Messingtafeln mit den Lebensdaten der Opfer. In eine ist der Name Hirsch Komissar eingraviert. Die Geschichte des jüdischen Ingenieurs, der seine Ausbildung im sächsischen Mittweida absolviert und später als Geschäftsmann und Inhaber eines Modegeschäfts gewirkt hat, ist Teil der Familienhistorie des norwegischen Autors Simon Stranger, der darüber einen preisgekrönten Roman geschrieben hat.

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Erbe und Erinnerung – Daša Drndić „Belladonna“

„War es Plinius, der schrieb, nichts sei so zerbrechlich wie die Erinnerung, diese zwielichtige Fähigkeit, die den Menschen aufbaut und zerlegt?“

Es muss nahezu schicksalhafte Momente geben. Es kann nicht anders sein. Lange stand der Roman „Sonnenschein“ von Daša Drndić auf meiner Wunschliste. Vor wenigen Monaten entdeckte ich ihn schließlich in einem Erfurter Buchladen. Nichtsahnend, dass es bald einen neuen Roman der kroatischen Schriftstellerin in deutscher Übersetzung geben wird. „Belladonna“ heißt dieses Buch. Der Titel verweist auf die gleichnamige Pflanze, auch unter dem Namen Schwarze Tollkirsche bekannt, die am Ende der Handlung in einer Szene eine Rolle spielen wird. Doch der Roman, der auf beeindruckende Weise Fiktion mit Realität vermischt, widmet sich nicht der Botanik, sondern der Erinnerung – in all ihren Formen und ihrer immensen Bedeutung – sowie der wechselvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts. „Erbe und Erinnerung – Daša Drndić „Belladonna““ weiterlesen

Familiengeheimnis – Paul Baeten Gronda „Straus Park“

„Seit drei Generationen hatte seine Familie diese Fassade im Blick. Sauber, beständig, leblos.“ 

Amerika wurde über Jahrhunderte für unzählige jüdische Familien zu einer zweiten Heimat. Sei es, um der Armut zu entfliehen, sei es, um den Pogromen und Verfolgungen zu entkommen. Heute leben schätzungsweise acht Millionen Juden in den USA. Amos Grossmanns Großeltern Charlotte und Markus gelingt es, untergetaucht in Amsterdam, nahezu unbeschadet das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg zu überstehen und am Ende des Krieges in die USA zu emigrieren. Was der Enkel der vermögenden Familie allerdings zuerst nicht weiß, ist, dass ihre Flucht noch einen ganz anderen Grund hat.       „Familiengeheimnis – Paul Baeten Gronda „Straus Park““ weiterlesen

Dunkler als schwarz – Jona Oberski „Kinderjahre“

„Ich merkte zwar, dass ich Fieber hatte. Aber das mit den fünf Tagen glaubte ich nicht. Es war ein dunkles Loch in der Zeit.“

Das Ziel der Reise war das Grauen. Koffer wurden gepackt, ein Zug bestiegen. Für Millionen Menschen war jene Fahrt eine ohne Wiederkehr. Die historischen Bilder der Gleise, Güterwaggons und Bahnhöfe an den Konzentrationslagern sind bis heute genauso ein Symbol für den Holocaust wie die Aufnahmen der Lager selbst. „Aber bald fahren wir wieder nach Hause“, tröstet die Mutter den kleinen Jona. Er wird als einziger den Krieg überleben, als Erwachsener in „Kinderjahre“ rund 30 Jahre später darüber erzählen und damit ein herausragendes literarisches Dokument schaffen, das nun als eine Neuerscheinung im Diogenes-Verlag auf seine Wiederentdeckung wartet.  „Dunkler als schwarz – Jona Oberski „Kinderjahre““ weiterlesen