Marica Bodrožić – „Die Arbeit der Vögel“

„In Träumen, Büchern und in den Bergen waltet eine archaische Stille.“

Ein Geisteswissenschaftler wie Freund der Literatur und Philosophie kommt an seinem Namen und seinem Werk nicht vorbei. Er war ein Schreibender, ein Denker, ein Linker und ein ruheloser Reisender. Walter Benjamin zählt (1892 – 1940) wohl zu den tragischen Lichtgestalten des 20. Jahrhunderts. In seiner Besprechung über eine neu erschienene Biografie nennt Jörg Später ihn eine Jahrhunderterscheinung. Marica Bodrožić ist mehr als sieben Jahrzehnte später seinen letzten Weg gegangen – von Frankreich aus über die Pyrenäen ins spanische Port Bou, wo Benjamin am 27. September 1940 an einer Überdosis Morphium starb. In ihrem eindrücklichen Band „Die Arbeit der Vögel“ schreibt sie über ihre Tour – und über noch viel mehr.

46 Seelenstenogramme

Mit ihrem Mann und ihrem gemeinsamen Kind unter dem Herzen im vierten Monat schwanger macht sich die Autorin auf den Weg, der viele Ebenen zusammenbringt. Ein dichter, komplexer und eng verwobener Gedankenstrom setzt sich in Gang –  angeregt durch die Orte und die Natur, durch Erinnerungen und frühere Lektüreerfahrungen. „Seelenstenogramme“ heißt deshalb auch der Untertitel dieses Buches. Es sind insgesamt 46 dieser eigenwilligen wie anspruchsvollen Texte, die wie ein Fluss den Leser mit sich tragen. Es ist nicht leicht, den Inhalt des Buches zu beschreiben, denn so viel kann er erzählen, dem Leser vermitteln. Erstaunlich, was eine Wanderung, Ein-Auf-Dem-Weg-Sein auslösen kann.

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Der Band vereint auf meisterhafte Weise die Form des Essays mit der des autobiografischen Romans. Auch Anklänge an das Genre des Nature Writing, das seit einigen Jahren zunehmend wieder mehr Aufmerksamkeit erhält und eine Renaissance erlebt, lassen sich finden. Es sind innere und äußere Landschaften, die Bodrožić beschreibt. Neben den besonderen Ereignissen in Benjamins Leben, sein Aufenthalt in Russland, seine stetige Flucht nach der Machtergreifung der Nazis und letztlich sein mysteriöser Tod, der noch immer für Spekulationen sorgt, stellt die Autorin weitere Schicksale beziehungsweise Helden dieser Zeit vor. Ihr Buch ist so ein Buch der Namen, ein Buch der Verbindungen. Da ist die Widerstandskämpferin und Fluchthelferin Lisa Fittko sowie der Konsul und Lebensretter Aristides de Sousa Mendes, der Theologe und Mathematiker Pawel Florinski sowie der Kommunist Karlo Štajner, beide Opfer des Stalinismus, beide Gefangene im Gulag, doch nur einer sollte das Grauen überleben und darüber erzählen können.

Und Bodrožić, 1973 nahe Split geboren, berichtet über ihr Leben, vor allem ihre Kindheit in Dalmatien, wo sie zuerst in einfachen Verhältnissen an der Seite ihres Großvaters aufwächst; ihre Eltern kommen als Wanderarbeiter nach Deutschland, wohin es schließlich auch die Autorin 1983 verschlägt. Krieg, Flucht und Verfolgung, die Auslöschung von millionenfachen Lebens in einer noch immer unfassbaren Unerbittlichkeit prägten nicht nur die Zeitzeugen, sondern auch nachfolgende Generationen. Alles ist miteinander verbunden. Ob in der Natur oder im Lauf der Zeit. Ein Mensch ist mehr ist als sein eigenes Leben…

„Wir sind Gehende, von Anfang an, sobald wir in Gang gesetzt sind, stellen wir uns dem Leben in Bewegung. (…) Ausgerechnet die Not erweckt das Unbändige. Und trägt uns wieder zur Kraft des ersten Gehens und Beginnens zurück.“

Der Dunkelheit der Vergangenheit und der Gegenwart – denn die Gewalt setzt sich trotz großer Schwüre und Versprechungen nahezu ungehindert fort, was die aktuelle Geschehnisse beweisen – setzt die Autorin das Licht des Lebens und den Zauber der kleinen Dinge entgegen wie sie auch den Gegensatz zwischen der Schönheit der Berglandschaft und dem Leid der Flüchtlinge, die damals auf dem einstigen Schmuggler- und Maultierpfad um ihr Leben liefen, erkennt. Sie sinniert über die Macht der Träume und die Rolle des Gehens, fordert Demut und Dankbarkeit, kritisiert die Unersättlichkeit der modernen Welt in Form von Konsum und Kapitalismus sowie Umweltzerstörung und warnt vor Rechtsextremismus und Rassismus.

Buch der Namen und Zitate

Zahlreiche Zitate begleiten ihren Gedankenstrom. Bodrožić verweist nicht nur auf Benjamin, sondern auch auf weitere Größen aus Literatur und Philosophie wie Toni Morrison und Jean Paul, Theodor W. Adorno, Claude Lévi-Strauss und Ossip Mandelstam; auch er wird die „Säuberungen“ unter Stalin nicht überleben. Mehrfach erwähnt sie die biblische Jakobsleiter als Verbindung zwischen Himmel und Erde. Und stets mittendrin: die Vögel, stetige Begleiter und Symbol für die Natur.

Dieses Buch, an dem die mehrfach preisgekrönte Autorin mehr als drei Jahre gearbeitet hat, macht etwas mit dem Leser – trotz seiner Komplexität, Gedankenfülle und eines mystischen Untertons packt es dank sowohl seiner unbeschreiblichen Spannung als auch seiner poetischen Sprache. Man liest gebannt, ist Begleiter wie Benjamin, wie die Vögel. Zugleich erdet dieser Band, bringt er einem doch das Thema Achtsamkeit in ganz anderer Weise näher; nicht nur auf die Konzentration auf das Hier und Jetzt fokussiert, sondern auch bezogen auf den Lauf der Zeit, der Geschichte. Während des Lesens kann ein ganzer Packen an bunten Klebezetteln aufgebraucht und/oder Seiten von Notizbüchern gefüllt werden. Sicher ist: „Die Arbeit der Vögel“ ist eine bewegende wie ungemein bereichernde Leseerfahrung in seiner mächtigsten Form und lohnt auch eine Wiederlektüre.


Marica Bodrožić: „Die Arbeit der Vögel“, erschienen im Luchterhand Verlag; 352 Seiten, 22 Euro

Foto von LouisMoto auf Unsplash

3 Kommentare zu „Marica Bodrožić – „Die Arbeit der Vögel“

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