„Die Realität ist echt ein krass unrealistisches Konstrukt.“
Power ist weg. Der wuschelige, Jäckchen tragende Hund der Hitschke ist spurlos verschwunden. Für die ältere Frau brechen traurige, einsame Tage an. Einzig Kerze will ihr helfen und begibt sich auf die Suche nach dem geliebten Vierbeiner. Doch was wie ein Akt nachbarschaftlicher Hilfe beginnt, führt ein Dorf in einen Ausnahmezustand, in dem Hilflosigkeit und Hass die Oberhand gewinnen. Mit „Power“ hat Verena Güntner einen Roman mit einer eigenwilligen Heldin und einer erstaunlichen Dynamik geschrieben, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war.
Kinder werden zu Hunderudel
Kerze erinnert wohl ein wenig an Pippi Langstrumpf. Die Elfjährige ist anders. Ihren Namen hat sie sich selbst gegeben. Sie wirkt eigensinnig und auch recht altklug, wenn sie so manches Mal die Erwachsenen belehren will. Allen voran Hitschke und ihre Mutter. Einen Vater scheint es nicht zu geben. Doch Kerze hat feste und löbliche Prinzipien: Jedes Versprechen, das sie gibt, hält sie. So lässt sie sich auch durch Fehlschläge nicht von ihrer Suche abbringen. Nach und nach schließen sich weitere Kinder und Jugendliche der Aktion an, auch eher ungeliebte wie Henne der Nazi. Gemeinsam ziehen sie in den Wald, um dort zu bleiben und die Verhaltensweisen eines Hunderudels anzunehmen – mit Kerze als Anführerin.
Zurück bleiben ratlose Eltern, die sich das Verhalten ihrer Kinder nicht erklären können. Das Dorf, aus dem viele abgewandert sind und das schon bessere Zeiten erlebt hat, wirkt noch trostloser. Nur der Edeka-Markt sorgt als Treffpunkt für etwas Abwechslung. Eine beängstigende Stille kehrt in den Ort ein, der vom Großbauern Huber und seinem Sohn dominiert wird. Die Hilflosigkeit der erwachsenen Einwohner verwandelt sich in Wut und Zorn, der sich in Richtung der älteren, einsamen Hundebesitzerin entlädt. Auch wenn das Dorf noch nie dafür bekannt war, ein sozialer Ort zu sein, verschärft sich mehr und mehr die Lage. Die Autorin schafft mit kaltherzigen Protagonisten ganz bewusst einen Gegenentwurf zur klischeehaften Dorfidylle. Allen voran Bauer Huber, der Saisonarbeiter aus Osteuropa beschäftigt und seinen Sohn quält, oder die Nachbarn der Hitschke, die die Seniorin schikanieren.
„Sie schaut den Bäumen beim Wachsen zu, seit sie leben. Einmal, manchmal zweimal die Woche kommt sie her, das ganze Jahr über. Sie lernt etwas beim Zuschauen. Dass man Geduld haben muss, dass nichts einfach so passiert.“
Aus Schikane wird gezielte Gewalt – psychische wie physische, die sich gegen die einsame Hitschke richtet, die, nachdem ihr Hund verschwunden ist, niemanden mehr hat. Ihr Garten wird zugemüllt, das Haus unter Wasser gesetzt. Obwohl sie die einzige ist, die den Kindern selbstlos hilft und ihnen Essen bringt, so dass nach und nach ihre Vorräte zur Neige gehen, weil sie sich kaum aus den eigenen vier Wänden traut. Aus einer spielerischen Suche wird purer Ernst. Aus einer erstaunlichen Eigendynamik heraus entwickelt sich eine teils beängstigende Beklemmung. Die archaische Kinderwelt, in der das Rudel um Kerze der Zivilisation mit ihren Regeln und Verhaltensweisen den Rücken kehrt und allmählich verwildert, steht der bedrohlichen und hierarchischen Welt der Erwachsenen gegenüber, die das Verhalten der Kinder nicht hinterfragen, sondern sie vielmehr mit vereinten Kräften wieder in die Gesellschaft einfügen wollen, um einen Zustand der Normalität herbeizuführen.
Für Preis der Leipziger Buchmesse nominiert
„Power“ besticht gerade in seiner Kürze – der Roman hat etwas mehr als 250 Seiten – durch seine Vielschichtigkeit. Mehrere Themen, Schicksale und kritische Anklänge an die Gegenwart lassen sich in der wechselvollen, spannungsgeladenen sowie teils auch verstörenden Handlung finden. Und man muss die junge Heldin nicht unbedingt mögen, um dieses Buch gern zu lesen. An Kerze geht die Entwicklung ebenfalls nicht spurlos vorüber. Aus einem hilfsbereiten Mädchen wird eine despotische Rudelsanführerin, die ihre Truppe fest im Griff hat.
Für ihren sprachlich eindringlichen wie intensiven Roman gelang Verena Güntner der Sprung auf die Liste der Nominierten für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse, den letztlich Lutz Seiler für seinen Roman „Stern 111“ erhielt. 2013 wurde die 1978 geborene Autorin und Schauspielerin für Auszüge aus ihrem Debüt „Es bringen“ (Kiepenheuer & Witsch) mit dem Kelag-Preis im Rahmen des Ingeborg-Bachmann-Preises geehrt. „Power“ ist nun ihr zweiter Roman. Ein starkes und besonderes Buch über Loyalität, Ausgrenzung und den Konflikt zwischen den Generationen, das lange nachhallt.
Weitere Besprechungen auf den Blogs „Poesierausch“, „Buch-Haltung“ und „literaturtwo“,
Verena Güntner: „Power“, erschienen im Dumont Buchverlag; 254 Seiten, 22 Euro
Foto von Steven Kamenar auf Unsplash
Ich fand den richtig gut und im Vergleich zu „Stern 111“ tatsächlich auch ein Buch, das viel länger nachwirkt und einen beschäftigt.
LikeGefällt 1 Person
Ja, es ist ein besonderes Buch mit einer ganz speziellen Geschichte. Ich mag es auch, wenn Kinder die Protagonisten sind und/oder aus deren Sicht berichtet wird. Seilers Roman liegt noch auf dem Stapel, wird aber sicherlich bald gelesen. Viele Grüße
LikeLike
Hallo,
über das Buch habe ich schon viel gehört, und die Bloggerin „Frieda Frei“ verglich es mit „Herr der Fliegen“ – es klingt wirklich sehr interessant und ist schon mal auf meine Merkliste gewandert.
LG,
Mikka
LikeGefällt 1 Person