Jean-Paul Dubois – „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“

„Es geschah oft, dass ich diese Abwesenheit spürte, stets war es dasselbe Unbehagen.“

Er sitzt hinter Gittern, in einem maroden Gefängnis in Montreal. Es sind nur wenige Quadratmeter Lebensraum, die er sich auch noch mit einem Mann teilen muss. Einem Hünen, der einer Rocker-Gang angehört und an einem Mord in der Szene beteiligt gewesen sein soll. Paul Hansen lässt in seinem monotonen und fremdbestimmten Knast-Alltag sein Leben Revue passieren; die guten wie die schlechten Tage eines einfachen wie wechselvollen Lebens, begleitet von den Toten aus seinem Leben – Vater, Frau und Hund. Mit „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“ hat der Franzose Jean-Paul Dubois einen melancholischen, lebensklugen und überaus menschlichen Roman geschrieben, für den er im vergangenen Jahr mit dem renommierten Prix Goncourt geehrt wurde.  

Eine explosive Mischung 

Paul wächst in Toulouse zwischen Kontrasten auf. Sein Vater Johannes Hansen ist Pfarrer. Seine Mutter Anna ist Tochter von Kinobesitzern. Nach dem tragischen Unfall-Tod ihrer Eltern übernimmt sie das kleine Programmkino. Die Ehe zwischen dem Mann aus einer Fischerfamilie und dem Norden Dänemarks und der Französin ist indes nur kurzzeitig glücklich und von Dauer. Die 68er-Bewegung beginnt und verändert mit all ihrer Hoffnung auf Freiheit, ihrer Zügellosigkeit, ihrer Unruhen das Leben vieler. Als Anna einen schlüpfrigen und umstrittenen Film ganz bewusst ins Programm aufnimmt, sägt sie wissentlich am Stuhl ihres Mannes, der daraufhin seines Amtes enthoben wird. Johannes lässt seine Familie zurück und geht nach Kanada, um Pfarrer in einer methodistischen Gemeinde in Quebec, in der der Asbest-Abbau das Leben der Einwohner prägt, zu werden. Sein Sohn folgt ihm nach Übersee.   

Paul verdient sein Geld zuerst in einer Bau-Firma, lernt dort das Handwerk von der Pike auf, später wird er Hausmeister einer Luxus-Wohnanlage namens Excelsior. Mit 68 Appartements und exclusiv mit Tiefgarage, Fitnessstudio und Schwimmbad ausgestattet. Er wird zur guten Seele des Hauses, immer fleißig, korrekt, hilfsbereit und freundlich, er fühlt, dass er angekommen ist im Leben. Er lernt seine Frau Winona, eine Halbindianerin und Pilotin, kennen. An ihrer Seite: die treue Hündin Nouk. Jahre vergehen, sein Glück scheint perfekt zu sein. Doch das Leben hält Überraschungen bereit: tragische und schockierende Ereignisse und Verluste sowie Unmenschen wie der neue Vorsitzende der Anlage, ein Ekel und Despot, der ihm das Leben zur Hölle macht. Es sind nur wenige Momente, die Paul schließlich ins Gefängnis und in die Zelle zu Rocker Patrick bringen.   

Leitspruch des unheiligen Vaters 

Der markante Titel des Buches geht auf einen Leitspruch von Pauls Vater zurück, der als Pfarrer kein Heiliger war, vielmehr als Spieler ohne Glückssträhne auf der Rennbahn und im Casino das Geld der Gemeinde verzockte. Zu ihm hat der Held und Ich-Erzähler ein besonderes Verhältnis, enger als zur Mutter, die mit den Jahren und aus der Ferne zu einer Randfigur wird. Es sind nur wenige Menschen, zu denen Paul vertrauensvolle Kontakte pflegt: wie Kilram, der für Versicherungen den Tod eines Menschen einschätzt, Noel Alexandre, der Paul als Verwalter ins Excelsior holt, und schließlich sein Zellen-Genosse Patrick, der trotz seiner hünenhaften Gestalt und seiner gewaltvollen Vergangenheit einen weichen Kern hat. Der mehrfach preisgekrönte Schriftsteller und Journalist, 1950 in Toulouse geboren, versammelt in seinem aktuellen Roman spezielle Charaktere, die aber keinesfalls unrealistisch wirken. Jeder von uns kennt solche Menschen, deren liebenswürdiges wie eigensinniges Wesen man nicht auf den ersten Blick gewahr wird. Wenn dieser Roman, der zwischen Haft-Alltag und dem Lebensrückblick pendelt, eine Botschaft enthält, dann ist es auch diese, bei Menschen genauer hinzuschauen, über ihren Charakter nicht vorschnell zu urteilen. Auch ein Häftling hat eine Geschichte zu erzählen. Zwei Jahre wird Paul, ein stiller, unauffälliger Held mit großem Herz, für seine Tat, die er niemals bereut, inhaftiert. 

„An jenem Sonntag handelt die Predigt von den Nöten und Sorgen, die die Familien von Generation zu Generation weitergeben, von jenen Geschichten, über die wir gar nicht viel wissen, deren Empfang wir aber doch bestätigen, die wir mit uns herumtragen und mit unserem eigenen Kummer anreichern, bevor wir sie unserer Nachkommenschaft unterjubeln.“ 

Aufmerksame Leser werden denn auch an einigen Stellen Kritik herauslesen. Kritik an Oberflächlichkeit, Egoismus und Menschenfeindlichkeit, an der Gier des Menschen nach Macht und Geld. Der Roman gewinnt dadurch und auch wegen der lebensklugen Gedanken des Helden an Tiefe. Gemeinsam mit einer berührenden Melancholie und teils komischen Szenen ist dieses Buch wie geschaffen für eine Verfilmung zu einem wundersamen Streifen ganz in französischer Manier. Wer Kinogänger ist, wird womöglich wissen, was ich meine. Entstehen im Nachbarland nicht die schönsten und besten tragikomischen Filme über das Leben, über Glück und Unglück, die sich ins Gedächtnis einbrennen?

Neuanfang an einem anderen Ort

So ist auch „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“ ein berührend menschlicher Roman über die Wechselhaftigkeit und Unberechenbarkeit des Daseins, über Vergänglichkeit, die Fehlbarkeit des Menschen und die eine große Liebe, die einem so viel lehrt. Der Schluss versöhnt ein wenig mit all den tragischen Erlebnissen und Verlusten des Helden und erweckt einen Hoffnungsschimmer, dass an einem anderen Ort, der vermeintlich fremd, aber zugleich vertraut erscheint, immer auch die Möglichkeit zu einem Neuanfang besteht. 

Eine weitere Besprechung gibt es jeweils auf den Blogs „Bücheratlas“, „LiteraturReich“ und „Astrolibrium“.


Jean-Paul Dubois: „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“, erschienen im dtv Verlag, in der Übersetzung aus dem Französischen von Nathalie Mälzer und Uta Rüenauver; 256 Seiten, 22 Euro 

Foto von John Rodenn Castillo auf Unsplash

3 Kommentare zu „Jean-Paul Dubois – „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“

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