Christoph Heubner – „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“

„(…), wir brauchen keine Worte, das Wissen war in uns eingesickert wie Blut in die Erde.

Dieser Ort, Sinnbild für millionenfaches Sterben und Leid, wird im Text kein einziges Mal erwähnt. Sein Name findet sich nur in der Unterzeile des Buches. Selbst wenn dieser schmale Band keine Überschrift tragen würde, könnte der Leser wohl bereits anhand der ersten der insgesamt nur drei Geschichten erkennen, wovon dieses Buch handelt. Es sind Geschichten über Auschwitz und den Holocaust, die trotz ihrer Kürze und ihrer wenigen Protagonisten beziehungsweise Stimmen Symbol für das noch immer unvorstellbare und unerklärbare Grauen inmitten des 20. Jahrhunderts sind. Wer diesen Band mit dem langen Titel „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“ von Christoph Heubner zur Hand nimmt und liest, wird erschüttert sein.

Drei Texte, drei verschiedene Formen

Der Schriftsteller ist zugleich Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees und wurde für sein Engagement bereits mehrfach geehrt. Schon vier Jahrzehnte und damit ein halbes Leben lang beschäftigt er sich mit den Lebensgeschichten der Überlebenden und Opfer. Die drei Texte sind das Ergebnis von zahlreichen Begegnungen und Gesprächen. Texte, die jeweils in einer ganz unterschiedlichen Form verfasst worden sind. In „Das leere Haus“ berichtet eine Überlebende von dem Grauen, dem Verlust der Heimat, der Suche nach einem neuen Lebensort, der erneuten Begegnung mit dem niemals endenden Hass und der Schuld, überlebt zu haben. „Ein Stück Wiese, ein Wald“ erinnert an ein Zwiegespräch einer Frau und eines Mannes, die aus dem selben Ort, aus dem ungarischen Kaposvár, stammen, zusammen mit weiteren Einwohnern deportiert werden. Sie berichten von ihrer Heimat, dem Gefühl, selbst dort fremd zu sein. Beide können nicht glauben, was ihnen geschehen wird. Sie klammern sich an die letzte Hoffnung.

Heubner

Die Geschichte, die dem Band seinen Namen gibt, erzählt wiederum vom Leben des Künstler-Paares Felka Platek und Felix Nussbaum, dem sich bereits Hans-Joachim Schädlich mit seinem Roman „Felix und Felka“  (Rowohlt, 2018) angenommen hat. Ihre Erlebnisse, Gefühle und Gedanken, Lebensträume und -ziele werden aus der jeweiligen Perspektive in Jahressprüngen und in kurzen, an Tagebuch-Einträge erinnernden Passagen geschildert. Die Polin und der Deutsche lernen sich in Berlin kennen und lieben. Sie werden Zeugen und zu Opfern des politischen wie gesellschaftlichen Hasses. In der Villa Massimo, welche das Paar dank eines Stipendiums bewohnt, wird Felix verprügelt. Trotz eines Verstecks in Brüssel werden beide 1944 nach Auschwitz deportiert. Das Felix-Nussbaum-Haus in Osnabrück, nach Plänen des bekannten US-amerikanischen Architekten Daniel Libeskind jüdischer Herkunft errichtet, erinnert an sein Leben und Schaffen.

„Ich habe versucht, sie zu zählen. Aber irgendwann sind mir die Zahlen gestorben, es waren zu viele, es war von allem zu viel.“

Auf nur wenig mehr als 100 Seiten gelingt es Heubner die unterschiedlichen Facetten unzähliger Lebensgeschichten sensibel und behutsam zusammenzuführen und zu verdichten. Die drei Geschichten sind beispielgebend für das Unvorstellbare, das unfassbare Leid der Holocaust-Opfer. Und obwohl schon unzählige Bücher sich dem damaligen Verbrechen widmen, gehört auch dieser dünne Band mit seiner schönen Gestaltung und einem umfangreichen Nachwort in jede Büchersammlung, die sich der Erinnerung verschrieben hat. Zumal die Zahl der Zeitzeugen immer weniger werden, es nun an den folgenden Generationen liegt, die Erinnerungen aufzuarbeiten und zu bewahren.

Ein wichtiges Buch – gerade auch jetzt

„Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“ ist ein wichtiges Buch, gerade in der Gegenwart mit ihren aktuellen politischen wie gesellschaftlichen Tendenzen. Heubners Werk ist schmal, schreibt sich jedoch beim Leser unweigerlich ein, hallt lange nach und löst bei dem einen oder anderen die Frage aus, was wäre, wenn es dieses Verbrechen nicht gegeben hätte. Was hätten all jene Menschen leisten, schaffen können, wie hätte sich die Welt entwickelt, gar verändert. Es ist zwar nur ein wehmütiger Gedanke, der das unfassbare Geschehen nicht rückgängig machen kann, der aber zeigt, dass die Erinnerung und Trauer noch leben.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „Sätze & Schätze“.


Christoph Heubner: „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen. Nach Auschwitz drei Geschichten“, erschienen im Steidl Verlag; 104 Seiten, 14,80 Euro

Foto von Leonor Oom auf Unsplash

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