„Wir haben sie aufgelesen, ein Vögelchen, das aus dem Nest gefallen war.“
Krebs ist tückisch, unerbittlich. Er schlägt zu, wenn du es am wenigsten ahnst, er fällt dir unbarmherzig in den Rücken, wenn du aufstehen willst. Wer mit dieser furchtbaren Krankheit schon in Berührung gekommen ist, auch einen geliebten Menschen verloren hat, wird die schrecklichen und herzzerreißenden Auswirkungen sowohl auf den Erkrankten als auch dessen Angehörige, Familie wie Freunde, kennen. Dem Franzosen Sorj Chalandon und seiner Frau ereilte die Hiobsbotschaft, daran erkrankt sein, vor wenigen Jahren. Diese auch persönliche Beziehung und die eigenen Erfahrungen sind seinem neuesten Roman „Wilde Freude“ deutlich anzumerken.
K-Club: eine eingeschworene Gruppe
Die Diagnose Brustkrebs verändert das Leben von Jeanne mit einem Schlag. Statt ihrer geliebten Arbeit in der Buchhandlung, den Gesprächen mit Kollegen und Kunden über Bücher, Gott und die Welt nachzugehen, füllen Behandlungstermine ihren Kalender. Die 39-jährige Pariserin verliert ihre Haare, erfährt die ganze Bandbreite der Nebenwirkungen ihrer Chemo, bangt um ihr Leben. Ihr Mann Matt kann mit ihrer ernsten Erkrankung nicht umgehen. Er geht auf Distanz, verabschiedet sich eines Tages. Allzu groß ist der gemeinsame Schmerz, da sie sich bereits vor einigen Jahren von ihrem gemeinsamen Sohn verabschieden mussten, er zudem Mutter und Schwester an Krebs verloren hat. Bei einer Sitzung im Rahmen ihrer Chemo-Therapie lernt Jeanne, eher schüchtern und graumausig, die lebensbejahende Brigitte kennen. Die Besitzerin eines Crêpe-Lokals leidet ebenfalls an Krebs. In ihrer WG schart sie mit Assia, die zugleich ihre Lebensgefährtin ist, sowie Mélody zwei weitere Leidensgenossinnen um sich. Jeanne verlässt die Wohnung und zieht bei ihnen ein. In der Gruppe, die sich K-Club nennt, erfährt Jeanne Zuwendung und Trost und Beistand.
Und die drei Frauen teilen mit ihr schließlich ein Geheimnis, einen unglaublichen, ja irrwitzigen Plan: Gemeinsam wollen sie ein Pariser Juwelier-Geschäft an der Place Vendôme überfallen. Aus einer Geschichte um ein ergreifendes Schicksal wird ein Krimi, eine spannende, rasant erzählte Heist-Story, die von den intensiven Vorbereitungen und letztlich der Durchführung handelt und mit einer gewissen Ironie erzählt wird. Das Quartett nutzt die aktuellen Taten einer Gruppe von Frauen, die mit ihren Überfällen für Aufregung, Schlagzeilen und eine ziemlich hilflos wirkende Polizei sorgen, um sicher in deren Fahrwasser zu schwimmen. Dabei wollen Brigitte und ihre Mitstreiterinnen nicht reich werden. Das Geld aus dem Verkauf von Schmuckstücken soll Mélody erhalten, damit sie ihre kleine Tochter freikaufen kann. Chalandon bringt damit zwei völlig verschiedene Themen und Bereiche zusammen, die wohl unterschiedlicher nicht sein können.
„Krebs war ein hässliches Wort. Krabbe? Unmöglich. Krankheit? Zu vage. Ein Schnupfen ist eine Krankheit, eine Grippe, ein schwaches Herz, man kann sogar krank im Kopf sein, wenn man die Tage verwechselt. Aber man ist doch nicht krank, wenn man Krebs hat. Das ist zu wenig. Das Wort ‚Krankheit‘ ist dafür zu klein, zu eng.“
Obwohl Jeanne als Ich-Erzählerin im Mittelpunkt des Geschehens steht, werden auch die Schicksalsschläge und die Vergangenheit der anderen Frauen beleuchtet, wobei die eher kurzen Schlaglichter auf die Familiengeschichte von Jeanne und Matt ausführlicher und komplexer hätten sein können. Ein Mehr an Geschehen hätte ich durchaus sehr gern gelesen. Doch ist alles wahr, was die Frauen von sich erzählen? Eine erweist sich schließlich als raffinierte Betrügerin, die mit allen Wassern gewaschen ist.
Schon mit seinem großartigen und ebenfalls empfehlenswerten Roman „Am Tag davor“ – der Titel ist im Übrigen als Kapitelüberschrift auch in seinem neuesten Werk zu finden – schrieb der Franzose eine Story, die vollkommen unvorhersehbar ist. Auch mit seinem aktuellen Werk sorgt er mehrfach für Überraschungen und Wendungen. Dabei rankt sich vieles um das Ungesagte. Denn dieses Verschweigen ist zugleich Ausdruck dafür, nahe stehende Personen zu verschonen, weil die Wahrheit oft nicht zu verkraften ist.
Was die Krankheit bewirkt
„Wilde Freude“ berührt, ohne jemals kitschig zu wirken oder Mitleid vorzugaukeln, erstaunt mit einer furiosen, zugleich sehr menschlichen Geschichte, die den Beweis antritt, dass trotz vieler Schicksalsschläge einem Menschen Lebensfreude und Hoffnung innewohnen kann, weil gerade auch die Gemeinschaft zählt. Alle vier Frauen erfahren im Zusammenleben und im Pläneschmieden, wie sie dabei an Kraft und Zuversicht gewinnen. Chalandon, Jahrgang 1952 und mehrfach mit Preisen für sein schriftstellerisches wie journalistisches Schaffen geehrt, gibt einfühlsame Einblicke in die körperlichen wie seelischen Auswirkungen der Krankheit, lässt die Heldinnen auch immer wieder die unterschiedlichen Reaktionen der Gesunden auf an Krebs erkrankte Menschen erfahren und erleiden. Diese Abscheu, einen kahlen Kopf zu sehen, dieses Unverständnis auf die körperliche wie seelische Schwäche… Zwei besondere Bilder spielen eine wesentliche Rolle: die symbolträchtige Kamelie, die sich Jeanne zu Beginn kauft, sowie das hässliche Entlein, dem sie mehrmals begegnet. Es wirkt auch bei der letzten, sehr stillen Szene, die zu Tränen rührt, mit.
Weitere Besprechungen auf den Blogs „AstroLibrium“, „Buch-Haltung“, „missmerized“ und „LiteraturReich“.
Sorj Chalandon: „Wilde Freude“, erschienen in der dtv Verlagsgesellschaft, in der Übersetzung aus dem Französischen von Brigitte Große; 288 Seiten, 22 Euro
Foto von Mr.Autthaporn Pradidpong auf Unsplash
Ein Kommentar zu „Sorj Chalandon – „Wilde Freude““