„Ein Rätsel, diese Welt. Noch war sie nicht fertig mit ihr.“
Es gibt Bücher, die haben etwas an sich, das sich schwer beschreiben lässt. Häufig genutzte Wörter wie „berührend“ oder „wunderbar“ erfassen nicht die ganze Faszination des Lesers für ein solches Werk. Der Roman „Mit Blick aufs Meer“, für den die Amerikanerin Elizabeth Strout bereits 2009 den renommierten Pulitzer-Preis erhalten hat und den sie mit ihrem Werk „Die langen Abende“, kürzlich in deutscher Übersetzung erschienen, weiterführt, ist solch ein Werk.
Von Menschen und ihren Schicksalen
Im Mittelpunkt stehen die großgewachsene und schrullige Olive Kitteridge, ihr Mann Henry und der gemeinsame Sohn Christopher sowie zahlreiche Einwohner des Städtchens Crosby in Maine. Sie ist Lehrerin – mal mehr, mal weniger beliebt. Er arbeitet als Apotheker. Jahre und Jahrzehnte ziehen ins Land. Der Leser sieht Christopher erwachsen werden. Er heiratet, zieht mit seiner Frau in den Westen, er lässt sich wieder scheiden und kehrt schließlich an die Ostküste zurück. Olive und Henry kommen ins Alter. Nach Henrys Schlaganfall verändert sich das Leben der Heldin und das ihres Mannes von einer Sekunde auf die nächste. Er wird ein Pflegefall und kommt ins Heim.
Zugleich hat der Leser das Gefühl, mit den einzelnen Kapiteln des Buches durch die Straßen von Crosby zu gehen, den Menschen und ihren Schicksalen zu begegnen. Da ist der Rückkehrer Kevin, ein ehemaliger Schüler von Mrs. Kitteridge. Seine Mutter hat Selbstmord begangen, er selbst leidet unter Depressionen. Da sind unter anderem auch Angela, die in die Jahre gekommen ist, in der Cocktail-Lounge Klavier spielt und ihre Beziehungen Revue passieren lässt, sowie Marlene, die einen Lebensmittelladen führt und ihren Mann verloren hat. In kurzen Episoden verhandelt Strout nahezu ein Leben, Beziehungen, die ganze Bannbreite der Emotionen sowie ergreifende Schicksale, wie unter anderem auch das jenes Mädchens, das unter Magersucht leidet. Neben dem langsamen Abschied der Heldin von ihrem Mann die wohl ergreifendste Szene des Buches.
„Es gab Momente, und das hier war einer, da spürte Olive überdeutlich, wie verzweifelt sich jeder ins Zeug legte, um sich das zu verschaffen, was er brauchte. Und die meisten brauchten irgendein Gefühl der Sicherheit in diesem Meer der Angst, zu dem das Leben mehr und mehr wurde.“
Das Werk der US-Amerikanerin wirkt dabei sowohl als ein Roman als auch eine klug konstruierte Sammlung geschickt verwobener Storys, deren Geschichten sich entweder um das Leben der Kitteridges oder das der mit ihnen verbundenen Personen ranken. Man kann diesen Band deshalb auf verschiedene Weise lesen. Doch immer gewinnt man dabei den Eindruck, von einer Vielzahl an Lebensgeschichten, die positiven wie tragischen Seiten des Daseins zu erfahren. Kaum ein Lebensthema lässt die Autorin dabei aus.
Eine unvergessliche Heldin
Strout, 1956 in Portland/Maine geboren, debütierte 1998 mit ihrem später preisgekrönten Roman „Amy & Isabelle“. Ihr mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Roman „Mit Blick aufs Meer“ wurde 2014 verfilmt. Strouts Buch trägt melancholische Züge, zeichnet sich zugleich durch einen überaus klugen Humor aus. Vor allem die Dialoge lassen dabei Olive Kitteridges Schlagfertigkeit und Klugheit, aber auch ihre schwierigen Charakterzüge erkennen. „Mit Blick aufs Meer“ ist ein überaus menschliches wie weises Buch, das sowohl Herzens- als auch Lebensbuch sein kann. Mit einer unvergesslichen Anti-Heldin, die ihre Kanten, aber auch ihre menschlichen Seiten – oft auch sichtbar durch die Gedanken und Reaktionen der anderen Protagonisten – offenbart und die wohl nahezu einmalig in der nordamerikanischen Literatur ist. In einer gepflegten Sammlung mit Büchern jener Länder, die bekanntlich eher von großen männlichen Namen geprägt ist, sollte Strouts Buch keineswegs fehlen.
In der Reihe „Backlist“ werden Romane verschiedenster Verlage vorgestellt, die bereits vor einigen Jahren erschienen und womöglich bereits leicht in Vergessenheit geraten sind, doch die es wert sind, dass an sie erinnert wird. Bisher in dieser Reihe veröffentlichte Besprechungen gibt es zu:
Carmen Laforet „Nada“, Davide Longo „Der aufrechte Mann“, Per Petterson „Nicht mit mir“, Agota Kristof „Das große Heft“ , Michela Murgia „Accabadora“, Robert Seethaler „Der Trafikant“, John Wray „Die rechte Hand des Schlafes“, György Dragomán „Der weiße König“, Einar Már Gudmundsson „Engel des Universums“, Gila Lustiger „Die Schuld der anderen“, James Hanley „Ozean“, Becky Chambers „Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten“, Jochen Missfeldt „Solsbüll“, Maylis de Kerangal „Die Lebenden reparieren“, Niccolò Ammaniti „Anna“, Jan Kjærstad „Ich bin die Walker Brüder“
Elizabeth Strout: „Mit Blick aufs Meer“, erschienen im Luchterhand Verlag, als Taschenbuch im btb-Verlag, in der Übersetzung aus dem Amerikanischen von Sabine Roth; 352 Seiten, 10 Euro
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