„(…) für mich ist das Allerhöchste die Natur, da braucht es kein noch Größeres, (…).“
Es ist eine ganz eigenartige Hingebung. Im Winter greife ich gern zu Büchern über eisige Welten. Über die Arktis oder Antarktis. Über Expeditionen und die einzigartigen, indes bedrohten Landschaften auf unserem Planeten, die ich selbst gern einmal sehen würde. Als ich meinen Blick mal wieder über meine Regale schweifen ließ, fiel mir der Roman „Spielplatz der Helden“ von Michael Köhlmeier ins Auge. Ein Buch über drei Männer und deren abenteuerliche, waghalsige und auf einem realen Vorbild basierende Tour nach Grönland sowie über einen Mann, der sich auf die Spuren dieser Geschichte begibt.
In 88 Tagen über das Inlandeis
Den Ich-Erzähler zieht es eines Tages nach Südtirol, nachdem er eine Radiosendung über jene Männer gehört hatte, die 1984 die Grönland von Ost nach West zu Fuß durchlaufen haben. Bis dato hat es zwar schon verschiedene Expeditionen auf dieser gigantischen Insel zwischen dem Nordatlantik und dem Nordpolarmeer gegeben. Doch diese hebt sich durch eine erstaunliche Besonderheit ab. Das Trio aus Südtirol überquerte das Inland-Eis Grönlands in nur 88 Tagen, ohne Versorgung von außen und ohne zuvor angelegte Depots. Die Männer nahmen Astronauten-Nahrung zu sich, ihre Schlitten hatten ein Gewicht von jeweils 135 Kilogramm. Diese Leistung rief Erstaunen hervor und das Interesse der Medien. Der Ich-Erzähler lernt nacheinander alle drei Männer kennen, deren Wege sich nach der gemeinsamen 1.400 Kilometer langen Tour indes nahezu komplett getrennt haben. Jeder reagiert anders auf den interessierten Besucher mit dem Tonband-Gerät und den vielen Fragen. Der eine ist sehr redselig, der andere verstockt und wortkarg.
Der Ich-Erzähler erfährt viel über die Geschehnisse im Verlauf der Überquerung des Inland-Eises, über die Herausforderungen, die Fehler und Ängste der Männer, über die Rollen und Aufgaben, die sie übernommen haben, über die Ursachen für ihre Zerstrittenheit und Feindseligkeit, die bereits am ersten Tag der Expedition ihren Anfang nahm und durch Intrigen gefestigt wurde. Jeder hat dabei einen anderen Blick auf die Ereignisse, die mitunter gefährlich waren. Schließlich befand sich die Gruppe in einer eisigen Einöde, in der jeder noch so kleine Fehler mit dem Verlust des Lebens bestraft werden kann. Im Roman heißen die Helden Reinhold Minach, Michael Gratt und Leo Degaspari, ihre realen Vorbilder sind Robert Peroni, Josef Schrott und Wolfgang Thomaseth, denen Köhlmeier sein Werk auch gewidmet hat.
Einblicke in das Leben des Ich-Erzählers
In diese drei Berichte beziehungsweise Gespräche an verschiedenen Orten webt der Ich-Erzähler, ein Autor, der Ähnlichkeiten mit Köhlmeier aufweist, rückblickend Ereignisse aus seinem eigenen, wechselvollen Leben ein: sein Studium in Marburg, die Beziehung zu Pia, die er eben auf einer Fahrt nach in Südtirol kennenlernt, später lieben lernt, die schließlich ihren Mann verlässt, um mit ihrer neuen Liebe zusammenzuleben. Bis dahin befindet sich der Ich-Erzähler in einer nervenaufreibenden Dreiecksbeziehung. Diese Szenen bilden auf den ersten Blick einen sehr starken Kontrast, weil sie im Gegensatz zu den Schilderungen der Expedition eher privat und intim wirken. Beide inhaltlichen Ebenen haben jedoch das Thema Kommunikation als verbindende Gemeinsamkeit; was gebe ich von meinen Erinnerungen und Gedanken preis, was ist letztlich die Wahrheit und ist es immer richtig, diese zu äußern, welche Folgen haben unausgesprochene Worte, letztlich das Schweigen.
„Grönland war das Hochplateau, das Inlandeis. Man kann dazu nicht Landschaft sagen. Ist es eine Landschaft, wo das eigentliche Land zweitausend Meter unter deinen Füßen liegt? Eine Eisscheibe. Eine Unwirklichkeit.“
Neben diesem interessanten psychologischen Anstrich ist der Rückblick auf eine Arktis-Expedition jüngeren Datums sehr spannend. Denn meist haben weit frühere Touren Eingang in die Literatur gefunden. Man denke an die tragische Expedition von Sir John Franklin, von der in dem Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ von Sten Nadolny, in „Terror“ von Dan Simmons oder in „Erebus“ von Michael Palin erzählt wird. Auch zu den norwegischen Entdeckern Fridtjof Nansen und Roald Amundsen gibt es eine reichhaltige Literatur, die sich lohnt zu lesen.
Mit „Spielplatz der Helden“, bereits 1988 erschienen, beweist Michael Köhlmeier, 1949 im österreichischen Hard/Voralberg geboren, seine Klasse als Erzähler und Sprachvirtuose sowie seinen bestechenden Blick für eine besondere Begebenheit und das Wesen der Menschen. Obwohl regelmäßig Werke aus seiner Feder erscheinen, lohnt es sich also, in der langen Liste seines umfangreichen Schaffens auch nach älteren Perlen Ausschau zu halten.
In der Reihe „Backlist“ werden Romane verschiedenster Verlage vorgestellt, die bereits vor einigen Jahren erschienen und womöglich bereits leicht in Vergessenheit geraten sind, doch die es wert sind, dass an sie erinnert wird. Bisher in dieser Reihe veröffentlichte Besprechungen gibt es zu:
Carmen Laforet „Nada“, Davide Longo „Der aufrechte Mann“, Per Petterson „Nicht mit mir“, Agota Kristof „Das große Heft“ , Michela Murgia „Accabadora“, Robert Seethaler „Der Trafikant“, John Wray „Die rechte Hand des Schlafes“, György Dragomán „Der weiße König“, Einar Már Gudmundsson „Engel des Universums“, Gila Lustiger „Die Schuld der anderen“, James Hanley „Ozean“, Becky Chambers „Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten“, Jochen Missfeldt „Solsbüll“, Maylis de Kerangal „Die Lebenden reparieren“, Niccolò Ammaniti „Anna“, Jan Kjærstad „Ich bin die Walker Brüder“, Elizabeth Strout „Mit Blick aufs Meer“
Michael Köhlmeier: „Spielplatz der Helden“, erschienen im Piper Verlag, später im Hanser Verlag, als Taschenbuch im dtv Verlag; 352 Seiten, 10,90 Euro
Foto von Gitte Winter auf Unsplash
Liebe Constanze,
da hast du mir ein Buch von Köhlmeier nahe gebracht, das ich gar nicht kannte und das sofort mein großes Interesse geweckt hat. Aus welchem Grund auch immer (vielleicht liegt es an den aktuellen Berichten zur Antarktis-Expedition von Alexander Gerst), ich finde gerade auch Bücher über die „eisigen Welten“ ziemlich faszinierend.
Viele Grüße, Claudia
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Ach, da habe wir eine gemeinsame Leidenschaft. Das finde ich spannend und schön, dass ich Dir einen Tipp geben konnte. Ich weiß gar nicht, wann ich mir das Buch gekauft habe. Aber jetzt war es reif! Ich habe noch mit „Die Musterschüler“ einen weiteren älteren Roman Köhlmeiers im Regal stehen. Viele Grüße zurück
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