„Papa war der schwarze Mann.“
Es ist Sommer. Eine scheinbar sorgenlose Zeit. Eine drückende Hitze und Trockenheit schweben über dem kleinen süditalienischen Dorf Acqua Travese. Aller zwei Wochen kommt der Tankwagen in den Ort, um Wasser zu bringen. Mit weiteren Kindern und seiner kleinen Schwester Maria streift der neunjährige Michele durch die Gegend. Bei einem ihrer Ausflüge erreichen die Kinder ein verlassenes und verfallenes Haus. Dort macht der Junge eine schauerliche Entdeckung, die sein Leben verändern soll. In seinem 2001 erschienenen Roman „Ich habe keine Angst“ („Io non ho paura“) blickt der preisgekrönte italienische Schriftsteller Niccoló Ammaniti in die Abgründe der menschlichen Seele, erzählt aber auch von Freundschaft und Loyalität.
Furchtbarer Fund
In einem von einer Welldachplatte abgedeckten Erdloch findet Michele ein Kind, einen Jungen. Zuerst glaubt er, dieser sei tot. Doch der schmutzige und verletzte Leib, der zusammengekrümmt auf dem dreckigen Boden liegt, beginnt sich zum Entsetzen Micheles plötzlich zu regen. An einem der nächsten Tage fährt der Junge erneut zu dem gleichaltrigen Gefangenen. Später bringt er ihm Wasser und Essen. Seine Touren zu dem verfallenen Haus hält Michele geheim. Nach und nach muss er erfahren, dass der Junge, Sohn eines lombardischen Industriellen, von Menschen gefangen gehalten wird, die er sehr gut kennt.
Dieser Roman, der zeitlich Ende der 1970er-Jahre angesiedelt ist, ist bereit von Beginn an von einer bedrohlichen und beklemmenden Stimmung gezeichnet. Bereits die Beschreibungen der Kindergruppe und deren Erlebnisse gibt eindrückliche Einblicke in eine von Hierarchie und Gewalt geprägte Gesellschaft. Angeführt werden Michele und seine Mistreiter von Antonio, alias Totenkopf, einem Jugendlichen, der die Gruppe mit seinen persönlichen Regeln dominiert, andere Kinder demütigt und drangsaliert. Später muss Michele zudem feststellen, dass sein eigentlicher Freund Salvatore ihn verraten hat. Der Junge ist fortan allein auf sich gestellt. Sein Geheimnis kommt ans Licht. Er gerät in einen schweren Gewissenskonflikt, der ihn zunehmend belastet. Als im Fernsehen von der Entführung des Kindes berichtet wird, Micheles Eltern zudem mit Sergio eine zwielichtige Gestalt aufnimmt, spitzt sich die Lage zu.
„Hör auf mit diesen Monstern, Michele. Es gibt keine Monster, Gespenster, Werwölfe, Hexen, das ist alles Blödsinn, den man sich ausgedacht hat, um Leichtgläubigen wie dir Angst zu machen. Du musst Angst vor den Menschen haben, nicht vor Monstern“, hatte Papa mir eines Tages gesagt, als ich ihn gefragt hatte, ob Monster unter Wasser atmen können.“
Was Ammanitis Roman so besonders wie beeindruckend macht, ist die glaubhafte kindliche Perspektive und die psychologische Spannung, die den Leser mitfiebern lässt. Michele ist der Ich-Erzähler, der sowohl auf die damaligen Geschehnisse zurückblickt als auch das Beziehungsgeflecht innerhalb des Dorfes und die unterschiedlichen Schichten und Abhängigkeitsverhältnisse beschreibt. Während Michele aus einfachen Verhältnissen – sein Vater ist Lastwagenfahrer – stammt, ist Salvatore hingegen Spross einer begüterten Familie und lebt in finanzieller Sicherheit.
Mit Premio Viareggio geehrt
In seinem 2001 mit dem renommierten Premio Viareggio ausgezeichneten und zwei Jahre später verfilmten Roman verhandelt Ammaniti anhand seines kindlichen Helden Themen wie Angst, Gewissen und Mut zur Gerechtigkeit. Das religiöse Motiv der Auferstehung findet sich ebenfalls in diesem meisterhaften Buch. Der Italiener, 1966 in Rom geboren, gilt als einer der angesehensten Autoren seines Landes. Zuletzt erschien sein ebenfalls großartiger Roman „Anna“ (2018, Eisele Verlag), der erschütternd über einen tödlichen Virus erzählt und ebenfalls Heranwachsende in den Mittelpunkt der Handlung stellt. Lesen ermöglicht Neuentdeckungen, aber auch Wiederbegegnungen. Bereits „Anna“ habe ich hier in der Reihe „Backlist lesen“ vorgestellt. Und auch „Ich habe keine Angst“ sollte nicht vergessen werden, obwohl es das Buch leider nur noch gebraucht/antiquarisch zu kaufen gibt.
In der Reihe „Backlist“ werden Romane verschiedenster Verlage vorgestellt, die bereits vor einigen Jahren erschienen und womöglich bereits leicht in Vergessenheit geraten sind, doch die es wert sind, dass an sie erinnert wird. Bisher in dieser Reihe veröffentlichte Besprechungen gibt es zu:
Carmen Laforet „Nada“, Davide Longo „Der aufrechte Mann“, Per Petterson „Nicht mit mir“, Agota Kristof „Das große Heft“ , Michela Murgia „Accabadora“, Robert Seethaler „Der Trafikant“, John Wray „Die rechte Hand des Schlafes“, György Dragomán „Der weiße König“, Einar Már Gudmundsson „Engel des Universums“, Gila Lustiger „Die Schuld der anderen“, James Hanley „Ozean“, Becky Chambers „Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten“, Jochen Missfeldt „Solsbüll“, Maylis de Kerangal „Die Lebenden reparieren“, Niccolò Ammaniti „Anna“, Jan Kjærstad „Ich bin die Walker Brüder“, Elizabeth Strout „Mit Blick aufs Meer“, Michael Köhlmeier „Spielplatz der Helden“
Niccolò Ammaniti: „Ich habe keine Angst“, erschienen in der Übersetzung aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann in der gebundenen Ausgabe unter dem Titel „Die Herren des Hügels“ bei C. Bertelsmann, die Taschenbuch-Ausgabe im Goldmann Verlag; der Titel ist nur noch antiquarisch erhältlich.
Das ist ein Buch, das mich damals ( vor vielen Jahren) sehr berührt hat! Es gibt auch einen Film ( ebenfalls sehr gut) dazu. Bei Reclam Rote Reihe ist das Buch auf italienisch ( man muss den Grundwortschatz beherrschen) noch normal erhältlich.
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Danke für Deinen Kommentar, liebe Elvira, auch auf den Hinweis auf die zweisprachige Ausgabe. Auf den Film weise ich schon im Beitrag hin. Viele Grüße nach Berlin
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