„Wo er sich befindet, existiert die Zeit nicht mehr.“
Simon ist 19 und ein leidenschaftlicher Surfer, der das Meer, die Wellen, den Wind liebt. Nach einem Surfausflug mit seinen Freunden stirbt er bei einem tragischen Unfall. Von einer Sekunde auf die andere wird er aus dem Leben gerissen, sein noch kurzes Dasein auf Erden beendet. Die Ärzte stellen seinen Hirntod fest. Wenige Stunden später fassen seine Eltern eine folgenreiche Entscheidung: Sie geben Simon zur Organspende frei. In ihrem meisterhaften Roman beschreibt die französische Autorin Maylis de Kerangal den vielschichtigen Prozess eines solchen Ereignisses – vom tragischen Unfall bis zur Implantation der Spenderorgane in den Körper eines sehr kranken Menschen.
Einblicke in medizinischen Ablauf
Um dieses noch immer hochaktuelle wie brisante Thema mit Tragweite literarisch zu verarbeiten, lässt die Französin nur wenige Protagonisten agieren. Ihre Anzahl ist überschaubar. Der Roman gleicht einem intensiven Kammerspiel. Jede Figur vertritt dabei einen Berufsstand, einen Bereich oder eine Gruppe, die mit diesem Prozess verbunden ist. Neben der Familie steht vor allem das medizinische Personal im Mittelpunkt: Pierre Révol arbeitet als Arzt auf der Intensivstation des Krankenhauses in Le Havre, Thomas Rémige ist in der Koordiniationsstelle für Organ- und Gewebeentnahme tätig. Virgilio Breva gilt als einer der erfolgreichsten Herzchirurgen. Cordélia Owl, eine junge Frau, steht für das unentbehrliche Pflegepersonal.
De Kerangal, Jahrgang 1967, gibt detailreiche Einblicke in den medizinischen Ablauf und blickt zugleich zurück in die Geschichte der Medizin, als einst unter anderem definiert wurde, dass das Leben eines Menschen mit seinem Hirntod endet und geht der Frage nach, welche kulturgeschichtliche und symbolische Bedeutung Organe haben, für was sie stehen. Der Prozess der Organentnahme und -spende ist streng reguliert – zeitlich wie gesetzlich. Die Ethik ist in diesem Roman eine wichtige Frage. Ein großes Team wirkt an der anspruchsvollen Operation mit. Im Verlauf des Romans kommen jene Ärzte hinzu, die die Organentnahme durchführen. Sie stammen aus den Krankenhäusern, die die Organempfänger betreuen. Das Herz des Jugendlichen, der mit Juliette seine erste große Liebe erlebte, erhält eine 51-jährige schwerst kranke Frau, die schon lange auf ein passendes Organ gewartet hat, da ihre Blutgruppe sehr selten ist. Simons Lebensende bedeutet für sie ein zweites Leben.
Sehr gefühlvoll, große Emotionen
Neben der Schilderung des medizinischen Alltags lässt die Autorin sehr viel Raum für die Gefühle und Gedanken aller Beteiligten, allen voran für den tiefen Schmerz und die Trauer der Eltern Marianne und Sean, die gemeinsam um eine Entscheidung ringen. Und obwohl der Roman in einer klaren, leicht kühlen Sprache geschrieben ist, wirkt er stark auf die Emotionen des Lesers. In manchen Szenen entsteht die Wirkung, die Handlung als Zeitlupe und damit als überaus konzentrierten Augenblick wahrzunehmen. Es wird wohl keinen geben, den das Geschehen ungerüht lässt. Der eindrückliche Titel des Romans, für den es wohl keinen besseren geben könnte, verweist auf das Drama „Platonow“ von Anton Tschechow.
„Für das, was es in ihnen vorgeht, finden sie derzeit keinen Ausdruck, es wirft sie in eine Sprache zurück, die der Sprache vorausgeht, die sich nicht mitteilt, eine Sprache vor den Worten und vor der Grammatik, die vielleicht der andere Name des Schmerzes ist (…).“
„Die Lebenden reparieren“ geht sehr zu Herzen, hallt lange nach und lässt einen intensiv nachdenken über Leben und Tod, Trauer und Schmerz. Kein Roman über dieses komplexe Thema hat wohl diese immense Wirkung. Dieses wichtige und tiefgründige Buch, das all die verschiedenen Fragen sehr konzentriert und verdichtet bündelt, kann als klares Plädoyer für Organspende gewertet werden. Für ihr Werk wurde die französische Autorin mit mehreren namhaften Preisen geehrt. 2016 kam eine gleichnamige Verfilmung in die Kinos. Zuletzt erschien ihr Roman „Eine Welt in den Händen“ in deutscher Übersetzung.
Carmen Laforet „Nada“, Davide Longo „Der aufrechte Mann“, Per Petterson „Nicht mit mir“, Agota Kristof „Das große Heft“ , Michela Murgia „Accabadora“, Robert Seethaler „Der Trafikant“, John Wray „Die rechte Hand des Schlafes“, György Dragomán „Der weiße König“, Einar Már Gudmundsson „Engel des Universums“, Gila Lustiger „Die Schuld der anderen“, James Hanley „Ozean“, Becky Chambers „Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten“, Jochen Missfeldt „Solsbüll“
Maylis de Kerangal: „Die Lebenden reparieren“, erschienen im Suhrkamp Verlag, in der Übersetzung aus dem Französischen von Andrea Spingler; 254 Seiten, 10 Euro (Taschenbuch-Ausgabe)
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