„Es sind komische Zeiten gerade. Oder vielleicht waren die Zeiten immer schon so komisch.“
Die Zeit ist schon eine merkwürdige Erscheinung. Sie rast dahin, man möchte sie festhalten. Manchmal lässt sie Wunden in Narben verwandeln. Manchmal glaubt man, meint man, hat es sie schon einmal gegeben. In diesen Wochen, Monaten denkt man oft an eine Zeit zurück, die schließlich die Schwärze und das Grauen gebracht hat. Damals begann sich der Horizont dunkel zu verfärben. Wer den vierten Roman Robert Seethalers mit dem recht unscheinbaren Titel „Der Trafikant“ in die Hand nimmt und ihn liest, wird Parallelen zwischen dem historischen Geschehen, das dem Österreicher als Vorlage diente, und aktuellen Erscheinungen feststellen. Doch nicht nur deshalb sollte man dieses großartige Werk lesen und immer wieder weiter empfehlen.
Es fängt recht heimelig an, im Salzkammergut, am blitzblauen Attersee. Hier lebt der 17-jährige Franz Huchel – nahezu sorgenlos, mit einer ihn liebenden Mutter an der Seite. Bis ihr finanzkräftige Gönner stirbt, sie ihren Sohn in die Welt schickt, damit er endlich etwas aus seinem Leben macht, etwas anderes lernt – als die heimischen Berge, als das vertraute Hotel Mama. Sie schickt ihn nach Wien, in die große Stadt. Er soll bei Otto Trsjnek, einem Bekannten der Mutter, in dessen Tabak-Trafik arbeiten. Hier gibt es hauptsächlich Zigaretten, Zigarren, Zeitungen. Otto ist kriegsversehrt, ein Invalide und der Mann, der für Franz zu einem Freund und Mentor wird und der mit Sorge die politische Entwicklung in Österreich betrachtet und bereits Böses ahnt. Es sind die Jahre 1937 und 38, als die ersten „Heil Hitler“ schreien, die Gewalt ausufert, es schließlich zum Rücktritt des Bundeskanzlers Karl Schuschnigg und zum Anschluss Österreichs an das Dritte Reich kommt.
Eine bedrohliche Zeit sowohl für Andersdenkende wie Otto als auch Juden wie Sigmund Freud, den Franz eines Tages kennenlernt, ohne zu wissen, dass es sich bei ihm um eine Berühmtheit handelt. Der große Wissenschafter zählt zu den Kunden der Trafik, hier kauft er die eine oder andere Zeitung, aber vor allem gute Zigarren. Franz und Freud, der weltbekannte Neurologe und Begründer der Psychoanalyse und der unerfahrene Burschi vom Land, kommen ins Gespräch. Über das Leben, die Politik und die Liebe, denn Franz hat sich Hals über Kopf in Anezka verliebt, eine junge Frau aus Böhmen. Mit jedem Tag, mit jeder Woche eskaliert jedoch die Situation: Otto wird verhaftet, Freud sitzt auf gepackten Koffern, um nach England zu emigrieren.
„Eine Straßenbahn bimmelt durch den Wald, die Hasenaugen sind dunkle Tropfen, in den Bäumen hängen Gondeln, und über den Wolken hockt die weiße Angst, etwas nagt an meinen Wurzeln, hätte man vielleicht die Glut löschen sollen?“
„Der Trafikant“ ist ein raffinierter und berührender Roman, der viele Gesichter zeigt und mehrere literarische Formen in sich vereint, in dem der Leser auf vielen Seiten unvergessliche Zitate findet. Beginnt er recht heiter mit humorvollen Szenen, wächst die beklemmende Atmosphäre angesichts dramatischer Ereignisse und der aufgeheizten Stimmung. Aus Franz wird mehr und mehr ein junger Mann, der seine eigene Meinung vertritt und selbstständiger agiert. Bei den wunderbaren Dialogen mit Freud hat er durchaus auch ein Stückchen Lebensweisheit beizutragen. Nach der Verhaftung Ottos führt er allein die Trafik weiter. Der Mutter schreibt er Postkarten, später Briefe, den Hinweis Freuds, seine Träume zu Papier zu bringen, nimmt er ernst: Es entstehen sehr poetische Sätze, die er an die Scheibe der Trafik klebt.
Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „Peter liest“.
In der Reihe „Backlist“ werden Romane verschiedenster Verlage vorgestellt, die bereits vor einigen Jahren erschienen und womöglich bereits leicht in Vergessenheit geraten sind, doch die es wert sind, dass an sie erinnert wird. Bisher in dieser Reihe veröffentlichte Besprechungen gibt es zu:
Davide Longo „Der aufrechte Mann“,
Agota Kristof „Das große Heft“
Robert Seethaler: „Der Trafikant“, erschienen im Verlag Kein & Aber (bereits auch als Taschenbuch erhältlich – in einer sehr schönen Ausgabe mit blauem Schnitt)
Foto: pixabay
Ja dunkle Wolken sind aufgezogen. Jetzt werde ich den Traffikanten endlich einmal lesen.
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Vielen Dank für Deinen Kommentar, Dann eine sehr schöne Lesezeit. Vielleicht kannst Du mir mitteilen, wie es Dir gefallen hat. Viele Grüße
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Immerhin kann ich als Buchhändlerin feststellen, dass das Buch – auch wenn es schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat – sich immer noch sehr gut verkauft. Es ist aber auch ein schöner Roman!
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Vielen Dank, liebe Elvira, für Deinen Kommentar. Gut zu wissen, dass der Roman noch immer seine Leser findet. Ich hoffe, auch in den kommenden Jahren. Viele Grüße nach Berlin
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Vielen Dank für diesen erneut schönen Beitrag, der vollkommen zurecht auf Seethalers Roman hinweist und ihn mir auch noch einmal ins Gedächtnis zurückgeholt hat. Man muss wirklich keine Befürchtungen haben, dass „Der Trafikant“ nicht gelesen wird. Er hat in der Taschenbuchausgabe mittlerweile eine hohe Auflagenzahl. Mein eigener Artikel zum Roman ist der mit weitem Abstand meistgeklickte Beitrag, wenn man von Startseite oder solchen „Über mich“-Seiten absieht. Er hat im hohen vierstelligen Bereich mehr als doppelt so viele Klicks wie der nächst meistgelesene Beitrag. Das liegt, so vermute ich, daran, dass „Der Trafikant“ in mindestens einem, wenn nicht gar mehreren Bundesländern obligatorische Lektüre im Zentralabitur ist. Zur Sorge, der Roman würde nicht wahrgenommen, besteht also kein Anlass; und das freut mich sehr.
Viele Grüße!
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Vielen Dank für Deinen ausführlichen Kommentar, Peter. Ich finde es bemerkenswert, auf welche Resonanz der Roman stößt, er mittlerweile auch Schullektüre ist. Das hat mich allerdings nicht davon abgehalten, ihn in der Reihe „Backlist“ mal vorzustellen, zumal wir ihn in unserem Lesekreis hier in Naumburg gelesen und besprochen haben. Ich werde gleich mal Deinen Beitrag verlinken. Viele Grüße
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