„Selbstverständlich verstehe ich die Wirklichkeit ebensowenig wie sie mich.“
Auf der Seite vor dem Beginn des Romans steht eine Widmung, ein Name, zwei Lebensdaten: Pálmi Orn Gudmundsson – geb. 22. April 1949 – gest. 27. Mai 1992. Er war der Bruder von Einar Már Gudmundsson. Seinen Roman „Engel des Universums“ hat der isländische Autor Pálmi gewidmet, der an Schizophrenie gelitten und sich im Alter von 43 Jahren das Leben genommen hat. Wie sich die psychische Erkrankung äußert, wie die Außenwelt darauf reagiert, beschreibt Gudmundsson auf unnachahmliche Art und Weise in seinem Buch „Engel des Universums“, für das er 1995 mit dem renommierten Literaturpreis des Nordischen Rates, der wichtigsten literarischen Auszeichnung in Skandinavien, gewürdigt wurde.
Das Wesen verändert sich
Patti, Sohn eines Taxifahrers, hat das Zeug, ein Maler zu werden. Er hat Talent und auch den Willen, künstlerisch zu wirken. Doch bereits in der Jugend, als er das Gymnasium beendet hat, treten die ersten Symptome seiner Krankheit auf. Er hat Kopfschmerzen und Unwohlsein, sein Wesen verändert sich, er neigt zu Wutausbrüchen und wittert Verschwörungen. Eines Tages wird er geistig verwirrt und nahezu unbekleidet von der Polizei aufgegriffen und in die Nervenheilanstalt Kleppur gebracht. Eine Einrichtung, die ihn sein ganzes weiteres Leben begleiten wird. Als Kind war Kleppur in Sichtweite, oft auch Motiv von Bildern, die er kannte, später wird er selbst Patient der Einrichtung. Patienten und auch der Psychiater Brynjólfur werden zu Vertrauten. Die Freunde aus Kindheit und Jugend verschwinden aus seinem Leben. Bis auf Rögnvaldur, der zu ihm den Kontakt hält, ihn in der Anstalt auch besucht. Bis zu einem unerwarteten traurig-tragischen Ereignis, das zeigt, dass psychische Leiden oft auch unsichtbar bleiben.
Obwohl dieser Roman recht schmal ist, ist er reich an Geschichten. Von Personen und Ereignissen. Pattis Leben wird in Anlehnung an den Bruder des Autors von der Kindheit bis hin zu seinem Lebensende auf eine recht episodenhafte und unchronologische Weise aus der Ich-Perspektive erzählt. Patti ist Protagonist, Beobachter und zugleich Erzähler, Schöpfer seines Gedanken- und Erinnerungsstroms. So gibt er Einblicke in seine Gedankenwelt und sein Wesen. Schon zu Beginn beschreibt er, was diese psychische Erkrankung für ihn bedeutet: Es ist ein Herausgleiten aus der Welt, aus der Wirklichkeit, hinein in eine Dunkelheit. Er lebt in einer Welt, die er selbst erschafft. Patti glaubt unter anderem, eine Reinkarnation des Malers Vincent van Gogh zu sein. Viktor, ein Mitpatient, kann sich in die Helden der Dramen Shakespeares hineinfühlen und Hitler imitieren, Eysteinn ist sich sicher, eine Doktorarbeit über China geschrieben zu haben.
„Ich versuche, mir die Pinselstriche zu erklären: wie die Zeit gezeichnet ist, wie das Leben gefärbt, wer der Meister ist hinter diesem merkwürdigen Werk.“
Zwischen einer dunklen Melancholie finden sich auch immer wieder komische und heitere Szenen, ohne dass der Ernsthaftigkeit des Themas ihre Wirkung genommen wird. Weil Gudmundsson auch schreibt, wie drastisch sich das Leben mit einer psychischen Erkrankung verändert, wie einseitig in der Anstalt die Behandlung erfolgt. Die Patienten sollen nur ruhig gestellt werden, so dass sie keine Gefahr für sich und für andere sind. Es ist ein Verwahren, kein Behandeln. Der Blick der Außenwelt, wie er im Roman beschrieben wird, ist abwertend, distanzierend, verständnislos, auch hilflos.
Ein Buch voller Poesie
„Engel des Universums“ besticht nicht nur durch sein besonderes Thema, sondern auch durch seine unnachahmliche poetische Sprache, die Einblicke in die Gedankenwelt gibt, in den speziellen Blick auf das Leben. Immer wieder funkelt in den Beschreibungen auch die eindrucksvolle Landschaft Islands auf, mit dem Meer, den Bergen, den Elementen, finden sich märchen- und sagenhafte Andeutungen. Bekanntlich ist die nordische Vulkaninsel im Atlantik das Reich der Sagas. Gudmundsson, 1954 in Reykjavik geboren, debütierte als Autor Anfang der 1980er-Jahre mit einem Gedichtband. Seine sprachliche Nähe zur Lyrik ist seinem Roman, der 2000 verfilmt wurde, auch deutlich anzumerken. Der Isländer hat ein Werk geschrieben, das all den gesunden Menschen die dramatischen Auswirkungen einer psychischen Erkrankung vor Augen führt. Es ist ein Roman, mit dem man lachen, mit dem man weinen, mit dem man die grenzenlose Schönheit der Sprache feiern kann. Und der auf diese Weise in Erinnerung und unvergesslich bleibt.
Davide Longo „Der aufrechte Mann“,
Agota Kristof „Das große Heft“
Robert Seethaler „Der Trafikant“
John Wray „Die rechte Hand des Schlafes“
György Dragomán „Der weiße König“
Einar Már Gudmundsson: „Engel des Universums“, erschienen im btb Verlag, in der Übersetzung aus dem Isländischen von Angelika Gundlach; 224 Seiten, 8,50 Euro
Den Film muss ich mir direkt noch mal anschauen …
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Klingt sehr interessant und lesenswert. Danke für den Tipp!
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sehr gern geschehen, liebe Elvira. Es freut mich, wenn ich Dir einen Tipp geben konnte. Viele Grüße gen Berlin
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