„Man musste warten. Am Leben bleiben und warten.“
Nichts ist mehr, wie es war. Das Land versinkt in Chaos und Gewalt. Die Nationalgarde wird den Plünderungen nicht mehr Herr. Die Banken zahlen kein Geld mehr aus. Das Benzin wird knapp und unbezahlbar. Felder sind verwahrlost, Dörfer und ganze Städte verwaist. Der italienische preisgekrönte Autor Davide Longo erzählt in seinem Roman „Der aufrechte Mann“ von einem Land am Abgrund und einem Mann, der über sich hinauswächst, obwohl er kein Held sein wollte.
Auf dem Weg
Der berühmte Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Leonardo lebt nach einem Skandal bescheiden und sehr zurückgezogen. Eine Affäre mit einer Studentin hat ihn den Job und seine Ehe gekostet. Er kehrt – an seiner Seite einen treuen Hund wissend – zurück in seinen Heimatort, auf das Familienanwesen, wo er sich seinen unzähligen Büchern und Fantasiewelten widmet. Doch schon da hat das Land zu taumeln begonnen. Warum und aus welchem Grund, das wird an keiner Stelle erzählt. Und das spielt vielleicht auch keine Rolle, denn es wird sich erst einmal nichts für die Bevölkerung ändern, die ums Überleben kämpft. Im Gegenteil. Die Lage verschärft sich. Die Justiz wird außer Kraft gesetzt. Plünderer werden ohne Verhandlung und Gerichtsurteil mit dem Tode bestraft. Für manche ist nur die fremde Herkunft eines anderen entscheidend, um ihn brutal das Leben zu nehmen. Eines Tages steht Leonardos Ex-Frau Alessandra vor der Tür – nebst zwei Kindern, der gemeinsamen, bereits jugendlichen Tochter Lucia sowie dem jüngeren Alberto, der aus der Beziehung mit ihrem aktuellen Mann Riccardo stammt. Während sie ihren Mann suchen will, der für die Garde eingezogen wurde und von dem sie kein Lebenszeichen mehr erhalten hat, soll Leonardo auf die Kinder aufpassen und sie ins rettende Ausland bringen, wohin sich schon Tausende in einem nahezu nie enden wollenden Treck auf die Reise begeben haben.
Leonardo hat allerdings vorerst nicht vor, das Gehöft zu verlassen. Erst nachdem Haus und Hof geplündert werden und das Dorf zunehmend verwaist, macht er sich mit den beiden Kindern auf den Weg. Erst mit dem Auto, das ihnen geraubt wird, später zu Fuß! Manche werden jetzt vielleicht an „Die Straße“ des Amerikaners Cormac McCarthy (Rowohlt) denken. Und Longos Roman wurde bei seinem Erscheinen 2010 in Italien, zwei Jahre später in deutscher Übersetzung hierzulande auch mit dem Klassiker verglichen. Doch nicht nur, weil er eben auch von der Tour eines Mannes mit Kind durch ein verwüstetes Land berichtet – im Übrigen beschreiben zahlreiche dystopische Romane eine solche Reise in Richtung eines friedlicheren und sicheren Ortes; „Das Licht der letzten Tage“ von Emily St. John Mandel ist ebenfalls ein lesenswertes Beispiel. Vielmehr hat der Italiener ein ebenso großartiges bildgewaltiges Werk geschaffen – voller dunkler Poesie und drastischer Szenen, die nur sehr schwer zu ertragen sind.
„Ich habe eine Tochter, die Nacht draußen ist tief und ohne Zeichen, und jedes Ding scheint dazu bestimmt, uns zu überleben. Und doch sehe ich Schönheit.“
Vor allem in der zweiten Hälfte überschlagen sich die Ereignisse, wird Leonardo als Vater, Mann und Mensch gefordert, aus seiner passiven Komfortzone herausgeholt. Nach sowohl hoffnungsvoll stimmenden als auch gefährlichen Begegnungen mit Fremden kommt er mit den beiden Kindern in ein Lager aus vorwiegend Jugendlichen, das von einem charismatischen Führer geleitet wird. Die Jugendliche nehmen Drogen, gehen auf skrupellose Raubzüge nach Benzin, Lebensmittel und Frauen, die missbraucht werden. Während Leonardo und Lucia zu Opfern werden und schrecklich physisch wie psychisch leiden müssen, entscheidet sich Alberto für einen anderen Weg. Die Szenen, als der Literat in einem Käfig eingesperrt mit einem Zirkus-Elefanten Freundschaft schließt und sie sich gegenseitig Wärme und Schutz geben, zählen wohl neben dem unfassbaren und unverschuldeten Leid zahlreicher Menschen, von denen einige schließlich auch den Freitod wählen, mit zu den ergreifendsten. Neben einem Erzähler berichtet auch Leonardo mit Hilfe seiner Tagebuch-Eintragungen, die er wieder aufnimmt, von den Geschehnissen.
Opfer vs. Täter
Dystopien sind deshalb interessant, weil sie als Gedankenexperimente, vielleicht auch aus der Erfahrungen anderer, bisher geschehener Katastrophen aufzeigen, wie Menschen in unmenschlicher Zeit handeln. Die einen werden zu Opfern, die anderen zu Tätern, die einen heben Tugenden wie Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft hoch, die anderen verwandeln sich in Raubtiere ohne Skrupel und Gewissen, wobei nicht einmal nur ihr Überlebenswille, sondern vermutlich ein Machtgefühl sie dazu drängt; in einer Zeit, in der Essen, Kleidung und ein Dach über dem Kopf zu kostbaren Besitztümern werden, die einst kaum hinterfragt wurden.
Am Ende entwirft Longo für den Leser dann doch einen Hoffnungsschimmer – mit dem Ort eines Neuanfangs und in Person eines Jungen, der Vater und Tochter begleitet, und dass trotz düsterer und oftmals blutiger Szenen, die ganz und gar nicht als literarische Form eines Splatter-Movie daherkommen, sondern in großartiger Sprache gekleidet sind und sich immer mit einem ganz menschlichen Blick auf den Helden auszeichnen. Leonardo macht vor allem die Liebe und enge Bindung zu seiner Tochter Lucia und die Hoffnung stark, dass das Gute im Menschen auch in schrecklichen Zeiten überleben wird.
In der Reihe „Backlist“ werden Romane verschiedenster Verlage vorgestellt, die bereits vor einigen Jahren erschienen und womöglich bereits leicht in Vergessenheit geraten sind, doch die es wert sind, dass an sie erinnert wird.
Bisher erschienen:
Backlist #1 – Carmen Laforet „Nada“
Davide Longo: „Der aufrechte Mann“, erschienen im Rowohlt Verlag, in der Übersetzung aus dem Italienischen von Barbara Kleiner; 480 Seiten, 9,99 Euro
Foto: pixabay
„Die einen werden zu Opfern, die anderen zu Tätern…“ – ein Satz, über den ich sicher noch lange nachdenken werde.
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