„Im Grunde gibt es nichts, das dem Tode näher wäre als das Fotografieren.“
Wir versuchen, uns der Welt nicht nur in Worten, sondern auch in Bildern zu nähern. Ein für uns bedeutenden Moment gilt es festzuhalten – mit dem Smartphone, der Kamera, dem Gedächtnis. Obwohl man sich sicherlich fragen kann und sollte, welche Beziehung die Fotografie und das Gedächtnis zueinander eingehen. András Szabad, Held und Ich-Erzähler in dem neuen Roman von Attila Bartis, ist Fotograf und zugleich Chronist seines eigenen Lebens, der von seinen vielen Leidenschaften, seinen Erlebnissen und seinen Schicksalsschlägen berichtet.
Kamera als stetiger Begleiter
Dabei sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass Bartis, 1968 im rumänischen Siebenbürgen geboren und heute sowohl in Budapest als auch auf Java lebend, ausgebildeter Fotograf ist und damit weiß, wovon er schreibt. Die Fotografie, ihre Möglichkeiten als Gedächtnis und künstlerische Ausdrucksform spiegelt sich deshalb auch wider – sowohl im Geschehen des Romans als auch in seiner Form. In dessen Mittelpunkt steht eben jener bereits erwähnte András Szabad, der als Kind mit seinem Vater von einer Stadt in der Provinz nach Budapest kommt. Die Mutter ist früh gestorben, der Vater erlebte während des Krieges die Mühen der Zwangsarbeit, später, in den ersten Jahren des sozialistischen Staates Ungarn, die Trostlosigkeit einer mehrjährigen Haft. In dieser Zeit verliert die Mutter ihre geliebte Arbeit als Bibliothekarin, muss als Knopfnährerin das Geld verdienen. Es ist der Vater, der den Jungen an das Fotografieren heranführt, ihm zuerst eine Zorki in die Hand drückt, um ihm später eine teure Leica als Geschenk zu machen, obwohl das Geld kaum ausreicht, um über die Runden zu kommen. Die Kamera wird fortan Begleiter, mit der er Orte und Menschen, aber auch intime Szenen, so Pärchen beim Sex, aufnimmt, während sein bester Freund als Schriftsteller die Wirklichkeit in Worte fasst. Als András nach dem schmerzvollen Tod seines Vaters eine Stelle in einem Foto-Studio antritt, wird aus dem großen Hobby schließlich ein Beruf. Er fühlt sich schon da nicht mehr nur als Passbild-Fotograf, sondern als Foto-Künstler, der die Grenzen auslotet.
Dabei sind Fotos mehr als nur Momentaufnahmen, sie bergen auch Erinnerungen. Aufgrund eines Fotos in einer Zeitung kommt der Vater in Haft, ein anderes zeigt die Familie, die durch Schicksalsschläge auseinandergerissen wird. Später sind Frauen die Motive, denen András näher kommt, mit denen er eine Liebesbeziehung – mal mit mehr mal mit weniger Gefühlen – beginnt. Die eine oder andere porträtiert er in der Wohnung, später im Foto-Studio. Besonders jedoch eine Frau wird sein Leben verändern: Eva, eine Pianistin, die er eben in einer dieser intimen Szenen mit ihrem späteren Ex-Mann in einem Budapester Park mit der Kamera aufnimmt – nahezu voyeurhaft vom Reiz dieses Liebesspiels angezogen. Doch auch diese Beziehung ist wie die anderen zuvor nur zu Beginn von Harmonie geprägt. Obwohl sie bereits getrennt waren und sie in die USA emigriert war, erschüttert ihr Tod ihn sehr. Seitdem macht er keine Fotos mehr, beginnt er die Geschichte seiner Familie und sein Leben zu rekapitulieren – von den ersten Fotos als Kind bis hin zu den Ausstellungen als bekannter und viel geachteter Fotokünstler; ohne indes als großen Rahmen die wechselvolle Geschichte seines Landes zu vergessen, die mit Krieg, Sozialismus und politischer Wende wohl das Leben jedes Menschen unweigerlich beeinflusst hat und einen spannenden Hintergrund des Romans bildet. Auch András wird mit den Jahren erfahren, wie Politik und Gesellschaft über seine Familie gestanden haben, dass nichts ist, wie es scheint, vor allem mit Blick auf die Rolle seines Vaters.
„Über einen gewissen Punkt hinaus ist es völlig egal, dass das eine messbar ist und das andere nicht, die Chance, die Welt zu verstehen, sie zu beschreiben, ist gleich groß. Nämlich gleich null. Dem Unendlichen kann man unmöglich näher kommen. Beschreibbar ist nur eine Welt, aus der wir das Unendliche getilgt haben.“
So wie es in „Das Ende“ um die besondere Leidenschaft des Fotografierens geht, so zeigt sich dieses spezielle Thema auch stilistisch. Der Roman enthält zwar Kapitel und Absätze, mal aus kürzeren mal aus längeren Passagen bestehend, aber ein roter Faden der Handlung fehlt gänzlich, da das Geschehen zwischen den Zeiten springt. Vielmehr gewinnt der Leser zunehmend den Eindruck, er beschäftigt sich mit einer Kiste voller Fotos aus verschiedenen Jahren und Jahrzehnten, die ungeordnet auf einem Haufen liegen. Hinzu kommt der Blick für Details, die unglaublich genaue Gestaltung einer Szene. Ob dies nun Erinnerungen, Erlebnisse oder Träume sind. Oftmals kommt es zu Wiederholungen, wird mehrfach unter anderem der Astronaut Juri Gagarin und der ungarische Kommunist János Kádár erwähnt. Und aus einem weiteren Grund heraus, fordert die eigenwillige Lektüre den Leser: Es herrscht oftmals eine kühle Gefühllosigkeit und klamme Düsterkeit in dem Bericht des Erzählers, die sowohl abstoßen als auch eine gewisse anziehende Wirkung haben.
Geschehen wie hinter Plexiglas
Er selbst bleibt für den Leser eine einsame, von Verlusten geprägte Person in der Ferne, zu der es schwerfällt, eine emotionale Beziehung aufzubauen oder gar sich mit ihm zu identifizieren. Wie er als Fotograf Beobachter seiner Motive ist, so bleibt auch der Leser „nur“ ein Beobachter seines Lebens. Allgemein entsteht auch der Eindruck, zwischen Leser und dem Geschehen existiere eine durchsichtige Zwischenwand, einer Plexiglasscheibe gleich, die eine Annäherung nicht zulässt. Dies soll allerdings kein Kriterium für eine Bewertung sein. Generell bewerte ich einen Roman als gut oder schlecht nicht anhand dieser Eigenschaft der Identifikation. Die Meisterschaft von Bartis‘ Roman liegt in ganz anderen Dimensionen: in der Sprache, der Dichte und den zahlreichen herausragenden tiefgründigen Gedanken, die, jeweils mit einem bunten Post-it-Sticker gekennzeichnet, diesem eigenwilligen Buch dann doch etwas Farbe verleihen. Deshalb sollte auch der Übersetzerin und Schriftstellerin Terézia Mora (zuletzt „Das Ungeheuer“, „Die Liebe unter Aliens“) Respekt für ihre Leistung gebühren.
Attila Bartis: „Das Ende“, erschienen im Suhrkamp Verlag, in der Übersetzung aus dem Ungarischen von Terézia Mora; 751 Seiten, 32 Euro
Foto: pixabay
feiner bericht…
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vielen Dank für das Lob. Das freut mich sehr. Viele Grüße
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“ Allgemein entsteht auch der Eindruck, zwischen Leser und dem Geschehen existiere eine durchsichtige Zwischenwand, einer Plexiglasscheibe gleich, die eine Annäherung nicht zulässt.“ – Eben wie beim Betrachten eines Fotos, also vermutlich ganz genauso beabsichtigt. ;) LG tinius
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vielen Dank für Deinen Kommentar, Tinius. Genau! Ich hatte allerdings zudem den Eindruck, neben dem Blick auf Fotos, eher in ein Glaskasten zu schauen. Viele Grüße
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Oh das klingt nach einem Must have. Danke.
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Aber sehr gern geschehen. Schön, dass ich eine Empfehlung geben konnte. Viele Grüße
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