Der Krieg ist ein Ungeheuer, dachte Ernst im fünften Kriegsjahr.
Er sieht die große Welt auf andere Weise. Seine Liebe und Hingabe gilt der Familie und den Tieren, selbst die Spinnen beobachtet er stundenlang mit Faszination. Die gackernden Hühner und sein Holzpferd sind treue Begleiter. Die Politik versteht er nicht, auch nicht, dass es Krieg gibt, junge Menschen darin sterben. Ernst Kroll braucht sein Dorf, Veränderungen machen ihm Angst. Aus dem kleinen trägen Jungen wird ein kleiner Mann, der trotz körperlicher wie geistiger Einschränkungen aufgrund einer Krankheit sein Leben lebt – über zwei Weltkriege hinweg durch die Zeit der deutschen Teilung bis hin zu einem betagten Alter, das ihn noch die Wiedervereinigung beider Staaten erleben lässt. Sabine Huttel erzählt davon in ihrem Roman „Ein Anderer“, der durch die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts führt und überaus menschlich von einem alltäglichen wie besonderen Leben in einem Thüringer Dorf erzählt.
Eltern schützen vor dunkler Gefahr
Obwohl der Ort keinen Namen trägt, fällt es nicht schwer, die Handlung des Romans zu verorten: Schwarzburg und Aschau werden genannt. Man ist also mittendrin im Schwarzatal und im idyllischen Thüringer Wald. Hier wächst Ernst auf. Früh erkennen seine Eltern Martha und Hilmar, dass ihr Sohn nicht so ist, wie andere Kinder. Er ist der Zweitgeborene, ein erstes Kind mussten die Eltern jedoch zuvor zu Grabe tragen. Wenige Jahre nach der Geburt von Ernst kommt mit Helene ein weiteres Kind zur Welt. Während die Mutter den Jungen liebevoll umsorgt und vor den Anfeindungen und Hänseleien schützt, pflegt der Vater, als Lehrer und Kantor tätig und fokussiert auf die intelligente kleine Tochter, zu seinem Sohn in den ersten Jahren eine recht nüchterne Beziehung auf Abstand, die sich indes mit der Zeit wandelt. Er führt das Kind an die Musik heran, die bis zum Lebensende Ernsts große Leidenschaft sein wird. In den dunklen Jahren des Dritten Reiches ist er es auch, der ihn vor einer großen Gefahr bewahrt: Denn früh ahnt Hilmar Kroll als erbitterter Gegner Hitlers und dessen Demagogie, was sich hinter dem Gedanken eines „gesunden Volkskörpers“ verbirgt, ein Gedanke, den auch der junge aufstrebende Arzt des Dorfes vertritt, der den Jungen in den Jahren zuvor noch untersucht und mit Medikamenten versorgt hat, später aber im Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten eine führende Rolle übernehmen wird.
Obwohl Ernst es nicht versteht, warum er nicht mehr das Dorf verlassen kann, obwohl er es so sehr wünscht, mal wieder Onkel und Tante sowie Cousine Regine zu besuchen, rettet diese konsequente Entscheidung der Eltern dem nunmehr jungen Mann wohl das Leben. Er kommt in keine Anstalt – wie so viele andere, Kinder wie Erwachsene, rund 200.000 Menschen mit geistiger wie körperlicher oder einer Mehrfach-Behinderung, mit psychischen Erkrankungen oder aufgrund ihrer „unnormalen“ sexuellen Orientierung sollen während des Dritten Reiches ermordet worden sein. Ein Denkmal im Berliner Tiergarten gedenkt heute der Opfer, von deren wahren Schicksal die Familien meist erst viele Jahre später erfahren haben. Dass in den Anstalten mehrere Sekretärinnen beschäftigt waren, um Beileidsbriefe zu verfassen, auch davon erzählt der Roman, der eindrücklich vom Leben und Leid der Zivilbevölkerung während beider Kriege berichtet.
Die Männer haben das Dorf verlassen, die Frauen sammeln Haare für die U-Boote. Lebensmittel werden knapp. Die Glocken der Kirche und die Pfeifen der von Ernst und Hilmar geliebten Orgel werden eingeschmolzen. Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges erreichen Kriegsgefangene den Ort, die Männer kehren verwundet heim oder ein Brief erklärt, dass sie für Volk und Vaterland gefallen sind. Helenes Mann kehrt aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurück. Die Jahre vergehen. Der Vater stirbt früh und unter qualvollen Schmerzen an Krebs. Deutschland wird geteilt. Ernst und seine Mutter ziehen zu Helene, die sich mit ihrem Mann in der BRD eine Existenz aufgebaut haben. Statt Haus und Dorf leben Mutter und Sohn in einer Wohnung in einer Stadt.
„Eine Angst blieb in ihm zurück, die mit dem Wort Markt verschmolz, ein Misstrauen gegenüber dem lauten Übermut fremder Menschen, und gern kehrte er am übernächsten Tag ins Dorf zurück, wo er jeden Stein kannte und in Sicherheit war.“
So kommt ein Leben, vergeht es, begleitet von Kindheit und Jugend, Krieg und Frieden, Liebe und Leid sowie dramatischen Schicksalsschlägen. Es ist ein Leben so anders, aber auch so ähnlich wie das vieler anderer. Der Roman der Berlinerin, die nach ihrem Studium der Medizin, später der Germanistik viele Jahre unterrichtet und bereits einen Roman sowie Erzählungen veröffentlicht hat, ist ein Buch, das man in zwei Traditionslinien einordnen kann. Es geht sowohl um die Gemeinschaft eines Dorfes und um das Dasein auf dem Land als auch um den Verlauf eines Lebens, wie es beispielsweise auch Robert Seethaler in „Ein ganzes Leben“ oder John Williams in „Stoner“ beschrieben haben.
Großartige Botschaft
Dabei stellt die Autorin indes weder einen Bergführer noch einen Literaturprofessor in den Mittelpunkt, sondern eben einen Menschen, der zwar körperlich wie geistig eingeschränkt ist, der aber trotzdem seine Aufgaben pflichtbewusst erfüllt, einen Platz in dieser Welt und der ihn umgebenden Gemeinschaft einnimmt und seinen Mitmenschen mit Freundlichkeit begegnet und sie sogar mit der Kraft der Musik erfreut. Gerade darin liegt eine großartige weil menschliche Botschaft des Romans, der sowohl von der Liebe zum Detail und zur Ausgestaltung der Figuren als auch mit dem Blick für große politische wie gesellschaftliche Ereignisse gezeichnet ist. Die letzte Szene des Romans geht sehr zu Herzen, nicht nur, weil sie symbolisch von dem unausweichlichen Ende eines jeden Menschen erzählt, sondern auch weil Ernst zu einem liebgewonnenen Helden in zweifacher Hinsicht geworden ist. Sabine Huttel hat mit ihrem Roman – von Marion Rave von „schiefgelesen“ nominiert – den Sprung in die nächste Runde der aktuellen Auflage des Blogbuster-Wettbewerbs geschafft. Noch im Selbstverlag erschienen, sollte dieses wundervolle literarische Porträt unbedingt einen Platz in das Programm eines „richtigen Verlags“ erhalten und viele Leser finden.
Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „literaturreich“
Sabine Huttel: „Ein Anderer“, erschienen bei tredition, 392 Seiten, 14,99 Euro
Foto: pixabay
Ein wirklich ganz wunderbarer Roman, dem ich fest die Daumen für den Blogbuster-Preis drücke. Sehr schön von dir besprochen, liebe Constanze.
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