„Hier sein. Gehen, sehen, fühlen, lauschen.“
Die Literatur Skandinaviens verbinde ich sehr oft mit eindrücklichen Naturbeschreibungen. Schließlich haben die nordischen Länder beeindruckende Landschaften zu bieten. Und die Literatur dieser Regionen verbindet noch eine weitere nicht minder markante Eigenschaft: Sie gilt oft als düster, melancholisch. Beide Seiten verbindet auch der Schwede Tomas Bannerhed in seinem preisgekrönten Debüt „Die Raben“. Der Roman führt in die 70er-Jahre und erzählt die Geschichte von Klas, einem elfjährigen Jungen, der mit seinen Eltern und dem jüngeren Bruder Goran auf einem Hof lebt, der durch verschiedene Umstände in seiner Existenz bedroht ist.
Natur als Zufluchtsort
Während der Vater hofft, dass ihn sein Sohn als künftiger Nachfolger bei der schweren Arbeit auf den Feldern und im Stall hilft, streift Klas, zugleich Ich-Erzähler, unbeirrt durch die weiten Wälder auf der Suche nach den zahlreichen Vögeln, die im südschwedischen Småland heimisch sind. Wald und Felder, Kanal, Moor und Sumpf prägen die abwechlungsreiche Landschaft, die für ihn zu einem Rückzugsort geworden ist. Die Situation im elterlichen Haus belastet ihn. Vor allem die psychische Erkrankung des Vaters, der im Ort als Außenseiter gilt und sich zunehmend in seine eigene Welt zurückzieht, überschattet das Familienleben. Agne wird seiner Frau und den Kindern zunehmend fremder. Er lebt zurückgezogen im Keller des Hauses, sammelt Schrott, mit dem er sich neben der schweren Arbeit auf dem Hof zusätzlich herumplagt, und gewinnt dem Leben nichts mehr Gutes ab. Die Mutter versucht alles Erdenkliche, um die familiäre Stimmung in Balance zu halten und ihre Söhne zu schützen, aber auch ihrem Mann zu helfen. Nach einem Suizid-Versuch wird Agne in die Psychiatrie gebracht. Schon dessen Vater hatte sich einst das Leben genommen.
Einzig Veronika, ein Mädchen, das in das Dorf zieht und mit dem sich Klas gut versteht, sorgt für etwas Licht im Leben des Jungen, der kaum wirkliche Freunde hat. Er besucht sie in ihrem Zuhause, mit ihr streift er durch die Natur und vergisst die Sorgen und Nöte; vor allem die Last, die als künftiger Hoferbe schwer auf ihn liegt. Eine Zukunft, die er nicht möchte. Ihn treiben andere Themen und Fragen um: Er liest viel, beschäftigt sich mit der Vogelwelt, schreibt Leserbriefe an die Zeitung und zeigt sich fasziniert von der Weite des Weltalls. Er selbst nennt sich: Homo tremula, zitternder Mensch. So wie sich sein Vater zurückzieht, sondert sich Klas zunehmend ab.
„Hier liegen dürfen. Den Wind auf meinen Wangen spüren, die Lunge mit frischer Luft füllen, das Rauschen durch alles, alles, alles hören -.“
„Die Raben“ ist ein hoch psychologischer Roman, der nicht nur das Innenleben der Figuren, sondern auch die Beziehungen innerhalb der Familie und die Dorfgemeinschaft beschreibt – immer aus dem Blickwinkel des Jungen, der die Rolle des Ich-Erzählers übernimmt und seine Umgebung und die Stimmungen genau beobachtet. Darüber hinaus besticht der Roman durch die poetischen Beschreibungen der Landschaft, der Flora und Fauna, und der Gefühle, die die Natur im Menschen erzeugen kann. Bannerhed nennt in seinem Debütroman zahlreiche Vögel, bekannte und weniger bekannte. Wer möchte, kann sich gern der Herausforderung stellen, die erwähnten Artnamen während der Lektüre zu markieren, er wird überrascht sein von der Fülle. Allerdings ist der Schwede vertraut mit der Vogelwelt, erschien doch vor wenigen Jahren sein Bildband „Ein Vogeljahr in Schweden“ auch in deutscher Übersetzung. Der Namensgeber, der Rabe, steht im Mittelpunkt seines Debütromans, an dem Bannerhed zehn Jahre arbeitete. In der Mythologie wird ihm eine magische Ausstrahlung zugesprochen, zudem gilt er als Symbol des Schicksals, der persönlichen Veränderung und des Todes. Neben der Krankheit des Familienvaters widmet sich der Autor einem weiteren ernsten Thema: der Bedrohung der kleinen Landwirtschaftsbetriebe. Nicht nur Trockenheit und Schädlinge, sondern auch die Gefahr, das wichtige Pachtland an größere Unternehmen zu verlieren, macht dem erfahrenen Landwirt zu schaffen.
„Der Rabe fliegt schreiend über das Haus des Bauern und sagt den Tod voraus. So steht es geschrieben, so liegt es vor mir auf dem Schreibtisch. Fliegt über das Haus des Bauern und sagt den Tod voraus. So einfach ist das, Das wussten die Römer, und das wussten die Wikinger.“
Für seinen Erstling erhielt der Stockholmer, der in der Provinz Småland auch aufgewachsen ist und damit diese Region gut kennt, den renommierten Carl von Linné-Preis sowie den August-Preis für das beste schwedische Buch. Nach seinem Erscheinen 2011 stand es monatelang auf der Bestsellerliste seines Heimatlandes. In deutscher Übersetzung erschien es 2015. „Die Raben“ ist ein meisterhafter, indes düster-melancholischer und sprachlich eindrucksvoller Roman, der vor allem durch die besondere Figur des jungen Helden in Erinnerung bleiben wird.
In der Reihe „Backlist“ werden Romane verschiedenster Verlage vorgestellt, die bereits vor einigen Jahren erschienen und womöglich bereits leicht in Vergessenheit geraten sind, doch die es wert sind, dass an sie erinnert wird. Bisher in dieser Reihe veröffentlichte Besprechungen gibt es zu:
Carmen Laforet „Nada“, Davide Longo „Der aufrechte Mann“, Per Petterson „Nicht mit mir“, Agota Kristof „Das große Heft“ , Michela Murgia „Accabadora“, Robert Seethaler „Der Trafikant“, John Wray „Die rechte Hand des Schlafes“, György Dragomán „Der weiße König“, Einar Már Gudmundsson „Engel des Universums“, Gila Lustiger „Die Schuld der anderen“, James Hanley „Ozean“, Becky Chambers „Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten“, Jochen Missfeldt „Solsbüll“, Maylis de Kerangal „Die Lebenden reparieren“, Niccolò Ammaniti „Anna“, Jan Kjærstad „Ich bin die Walker Brüder“, Elizabeth Strout „Mit Blick aufs Meer“, Michael Köhlmeier „Spielplatz der Helden“
Tomas Bannerhed: „Die Raben“, erschienen im btb Verlag, in der Übersetzung aus dem Schwedischen von Paul Berf.
Foto von Dean Truderung auf Unsplash
Deine Rezension macht neugierig. Überhaupt finde ich Deine Backlist-Reihe ziemlich toll, da man ja nur eine begrenzte Menge an Büchern zeitnah besprechen kann und immer wieder viele gute Titel unentdeckt in der Versenkung verschwinden.
LikeLike
Vielen Dank für Dein Lob, es freut mich, dass die Backlist-Reihe so gut ankommt. Ich finde es gerade spannend, nach älteren literarischen Perlen Ausschau zu halten und sie zu empfehlen. Viele Grüße
LikeLike
Deine Rezension hat mich auch sehr neurigig gemacht und ich habe gleich meine Lieblingsbuchhandlung angeschrieben und das Buch bestellt. Nun bin ich sehr gespannt.
Liebe Grüße
Ines
LikeGefällt 1 Person
Schön, dass ich Dir einen Tipp geben konnte. Ich hoffe, Dir gefällt das Buch genauso gut wie mir. Ich würde mich sehr über ein Feedback freuen. Viele Grüße
LikeGefällt 1 Person