Backlist #20 Gaito Gasdanow – „Nächtliche Wege“

„Platon, das ist unerträglich.“

Nicht nur Debüts und Neuerscheinungen bekannter Autoren sorgen Jahr für Jahr für gespannte Aufregung. Erwartungsvoll schaue ich immer wieder in die Vorschauen mit der Hoffnung auf Wiederentdeckungen. Welche Schätze in den vergangenen Jahren gehoben werden konnten und welche Folgen sie auf den Buchmarkt haben, wären wohl ein interessantes Thema für eine wissenschaftliche Arbeit; wenn es sie vielleicht nicht schon gibt. 2012 trat ein Autor ins Rampenlicht, dessen Werke nach und nach wieder ins Bewusstsein gebracht worden sind: der russische Schriftsteller Gaito Gasdanow (1903-1971), der den neuerlichen Ruhm und die breite Rezeption, die bis heute anhält allerdings nicht mehr erleben durfte.

Paris bei Nacht

1903 in St. Petersburg geboren, ging Gasdanow ins Exil, nachdem er sich im russischen Bürgerkrieg bereits als Jugendlicher der Weißen Armee angeschlossen hatte. Über die Türkei und Bulgarien gelangte er schließlich 1923 nach Paris. Ohne diesen Weg durch halb Europa und letztlich seine Ankunft wäre wohl auch sein 1952 im Original in einem in New York ansässigen Exilverlag erschienener Roman „Nächtliche Wege“ nicht denkbar gewesen, der 2018 in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurde – sechs Jahre nachdem die Wiederentdeckung Gasdanows mit seinem Werk „Das Phantom des Alexander Wolf“ (Hanser) begann. In „Nächtliche Wege“ verarbeitet er seine Erlebnisse als Taxi-Fahrer, der in der Nacht die unterschiedlichsten Menschen durch die Stadt fährt, die sich in dieser Zeit von einer ganz anderen Seite zeigt. Der Ich-Erzähler begegnet sowohl  Prostituierten, Freiern und Zuhältern sowie Alkoholikern, die in den Cafés und Bars versinken, als auch zahlreichen Exil-Russen, die wie er in der französischen Metropole gestrandet sind. Im Gegensatz zum Flaneur, der einst die Straßen und Gassen der Stadt zu Fuß durchstreift hat, fährt er durch die Viertel mit Zwischenstopps in verschiedenen Lokalen.

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Die Lektüre erinnert dabei an eine Fahrt auf einem Karussell. Der Erzähler begegnet immer wieder den gleichen Personen mit den unterschiedlichsten Lebensläufen und Schicksalen: wie den Prostituierten Raldy, Suzanne und Alice, dem klugen Mann Platon, den Russen Wassiljew und Fedortschenko, deren Leben oft auch miteinander verwoben sind. Der Held erlebt die Schattenseiten des Lebens und die Abgründe der menschlichen Seele. Es geht um Diebstahl und Betrug genauso wie Sucht. Wiederkehrende Themen sind das Verhältnis zwischen Leben und Tod und die Frage nach dem Sinn unserer Existenz. Dieses Buch hat etwas Düsteres und Schwermütiges an sich, die schillernde Stadt an der Seine ist nicht die, die wir von eigenen Reisen oder Reisereportagen kennen. Als Taxi-Fahrer ist der Erzähler ganz bewusst und aus freien Stücken, gefüllt mit einer speziellen Neugierde nah an den Menschen mit all ihrem Leid und ihren Sorgen. Sie stammen aus verschiedenen Schichten, die unüberwindbaren Grenzen zwischen diesen und vor allem auch die Armut des einfachen Arbeiters, der in seinem tristen Alltag gefangen ist und oft auch nicht ausbrechen will und kann, zeigt der Autor auf eindrückliche Art und Weise auf.

„Logisch betrachtet, gingen mich diese Leute nicht das Geringste an; doch wie immer berührte mich fremdes und fernes Leid, so wie mich das Phantom eines fremden Todes verfolgte – mein Leben lang.“

Die Geschichte von Raldy – im Übrigen angelehnt an die der Lebedame Jeanne Baldy, wie Übersetzerin Christiane Körner in ihrem erhellenden Nachwort schreibt – ist die eines allmählichen Abstiegs. Einst angesehen und von den Männern fast vergöttert, verbringt sie ihre letzten Wochen und Tage verarmt und in Einsamkeit, vergessen von der Welt und ihren früheren Gönnern. Auch der weise Platon hatte zuvor ein anderes Leben. Allein trinkt er sich durch die Lokale der Stadt, seine Familie hat er verlassen. Zwischen szenischen Beschreibungen mischen sich Reflexionen und Erinnerungen, auch an frühere Tätigkeiten, bei denen der Held Lokomotiven gewaschen und Lastkähne ausgeladen hat. Autofiktion hat also schon Gasdanow geschrieben, dessen Werke dem Existenzialismus zugeschrieben werden, den Beinahmen „der russische Camus“ hat er nicht zufällig erhalten. Rasche Wechsel zwischen Themen, Orten und Personen bestimmen das Geschehen. Sein Buch fordert, aber lässt zugleich auch einen unwiderstehlichen Sog spüren.

Auch als Journalist tätig

Gaito Gasdanow um 1930, Fotograf unbekannt

Während des Zweiten Weltkriegs und der Besatzung der deutschen Wehrmacht gehörte Gasdanow mit seiner Frau der Resistance an. Beide halfen auch, Juden ein Versteck zu geben. Nach Kriegsende arbeitete er wieder als Journalist, nachdem er bereits in den 20er-Jahren für Zeitungen und Zeitschriften geschrieben hatte. 1954 kam er nach München, um in der dortigen Sendezentrale von Radio Liberation zu arbeiten, um allerdings wenige Jahre später wieder nach Paris zurückzukehren. 1966 übernahm er die Leitung des russischen Programms des Senders. Am 5. Dezember 1971 starb Gasdonow in München an Lungenkrebs. Seine Ruhestätte hat er auf dem Russischen Friedhof von Sainte-Geneviève-des-Bois bei Paris.

Gasdanow verfasste neun Romane und 37 Erzählungen, die zuerst in kleinen russischen Exilverlagen in Paris und New York veröffentlicht worden sind. Nach dem Ende der Sowjetunion erschienen in den 90er-Jahren seine Werke in seiner russischen Heimat. Waren bereits zwei seiner Erzählungen in deutschsprachigen Sammelbänden (1948/1999) aufgenommen worden, setzte die verstärkte Wahrnehmung seiner Werke nach 2012 ein. Nach „Das Phantom des Alexander Wolf“ wurden weitere Bücher veröffentlicht; zuletzt der Erzählband „Schwarze Schwäne“ (Hanser). Gaito Gasdanow kann also wieder gelesen und entdeckt werden. Welch ein großes Glück!

In der Reihe „Backlist“ werden Romane verschiedenster Verlage vorgestellt, die bereits vor einigen Jahren erschienen und womöglich bereits leicht in Vergessenheit geraten sind, doch die es wert sind, dass an sie erinnert wird. Bisher in dieser Reihe veröffentlichte Besprechungen gibt es zu:

Carmen Laforet „Nada“Davide Longo „Der aufrechte Mann“Per Petterson „Nicht mit mir“Agota Kristof „Das große Heft“ , Michela Murgia „Accabadora“Robert Seethaler „Der Trafikant“John Wray „Die rechte Hand des Schlafes“György Dragomán „Der weiße König“Einar Már Gudmundsson „Engel des Universums“Gila Lustiger „Die Schuld der anderen“James Hanley „Ozean“Becky Chambers „Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten“Jochen Missfeldt „Solsbüll“Maylis de Kerangal „Die Lebenden reparieren“Niccolò Ammaniti „Anna“Jan Kjærstad „Ich bin die Walker Brüder“, Elizabeth Strout „Mit Blick aufs Meer“Michael Köhlmeier „Spielplatz der Helden“, Niccolò Ammaniti „Ich habe keine Angst“


Gaito Gasdanow: „Nächtliche Wege“, erschienen im Hanser Verlag, als Taschenbuch-Ausgabe bei dtv (nur noch antiquarisch erhältlich), aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Christiane Körner; 288 Seiten, 23 Euro

Foto von S. auf Unsplash

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