Tina Pruschmann -„Bittere Wasser“

„Es bleiben so komische Sachen übrig, wenn ein Land verschwindet.“

Sie hießen Busch, Berolina und Aeros. Mit Mann und Maus und Manege tourten sie einst durch ein Land, das es heute nicht mehr gibt, – und darüber hinaus in ganz Europa und Übersee. 1960 wurde in der DDR der Staatszirkus als Volkseigener Betrieb mit seinen drei „Betriebsteilen“ gegründet. Mehr als 60 Jahre danach widmet die Leipzigerin Tina Pruschmann sich in ihrem eindrücklichen Roman „Bittere Wasser“ diesem spannenden Kapitel. Und mehr noch: Zugleich schreibt sie über die bewegte Geschichte eines Dorfes im Erzgebirge zwischen Bergbau und Kurerholung. Eine besondere Kombination, die fasziniert.

Zerfall eines Landes und einer Familie

Ida wächst mit dem Zirkus auf. Ihr Vater Georg ist Elefanten-Dompteur, ihre Mutter Jutta Artistin am Solotrapez. Mit ihnen und dem ganzen Tross reist sie umher. Als jedoch die Schule beginnt, wird sie von ihrer Großmutter, von allen nur Ohm genannt, aufgenommen. In Tann geht Ida zur Schule. In der Freizeit hilft sie ihrer Großmutter in der Kneipe. Zwischendrin ereignet sich die friedliche Revolution, die das Leben der Familie auf den Kopf stellt. Nicht nur das Land namens DDR, sondern auch die Familie Kokosch zerfällt. Der Zirkus wird über die Treuhand abgewickelt, Jutta zieht es in das Nachfolger-Unternehmen, eine Buffalo-Bill-Show. Georg und Ida bleiben in Tann zurück. Als mit dem Ende des Zirkus die Elefantin Judy mit ihrem Nachwuchs Hollerbusch – im Übrigen am selben Tag wie Ida zur Welt gekommen – in den Kyjiwer Zoo gebracht werden soll, reist Ida mit den Tieren gen Osten, wo sie Switlana und ihren Onkel Jewhen wiedersieht, die sie beide während eines Gastspiels in den 1980er-Jahren kennengelernt hatte, als sie ein Kind war.

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Die Jahre vergehen. Ida und Jewhen werden ein Paar. Trotz seines Wehmuts und seiner tiefen Trauer: Seine Frau arbeitete im Atomkraftwerk in Tschernobyl just, als die Katastrophe geschah, die Jelena den teuflischen Krebs und ihren allzu frühen Tod bescherte. Eines Tages, als sich auch die Zeiten in Kyjiw wandeln, die Beziehung zwischen Ida und Jewhen allmählich erkaltet, kehrt das „Zirkuskind“ zurück in seine Heimat, die wie sie selbst eine andere geworden ist. Ihre Großmutter ist bereits tot, in einem Zirkuswagen im Garten haust ihr Vater, der allzu oft zur Flasche greift. Eine unheilvolle Stimmung aus Frust und Fremdenhass liegt über dem Erzgebirgsort.

„Bittere Wasser“ ist indes kein Buch nur über die DDR, vielmehr gelingt es Pruschmann einen zeitlich weiten Bogen zu spannen, der von den Anfängen des Bergbaus in Tann, als Ida Urgroßvater als Bergmann schuftete, bis weit nach der Jahrtausend-Wende, als Idas Mitschülerin Otti zur Bürgermeisterin aufgestiegen ist, reicht. Immer wieder geht es um Wandel, wie die Vergangenheit die Gegenwart prägt, das Leben früherer Generation das der folgenden. Besonders bedrückend: das Dritte Reich und der Zweite Weltkrieg, die kein Stein auf den anderen gelassen haben. Tote Soldaten erscheinen der Ohm als Geister, an den einstigen Bürgermeister Erwin Wiehler erinnert nur noch ein Stolperstein. Der Bergbau brachte der Region einen gewissen Wohlstand, den Arbeitern indes Quarzstaub-Lungen, Tumore und radioaktive Verstrahlung.

„Wenn sie mit den Elefanten ist, scheint die Welt für sie die richtige Geschwindigkeit zu haben.“

Wer in der DDR gelebt hat, wird an vieles erinnert: an Dederon-Schürzen, Pionierhalstuch und Fahnenappell genauso wie an Russisch-Unterricht und die Staatssicherheit, die auch Jutta und Georg in ihrem perfiden „Spinnennetz“ eingefangen hat. Dass Pruschmanns Blick – die Autorin ist 1975 geboren – auf diese Zeit frei von jeglicher Ostalgie oder einem verklärenden Humor ist, rechne ich ihr hoch an. Allzu oft sind in der Vergangenheit DDR-Geschichten zu befremdlich erscheinenden Schenkelklopfern mutiert. Die Nationalpreisträger Georg und Jutta, die sogar Briefmarken zierten, sind letztlich keine Helden, sondern Teil eines Systems, auch wenn sie als Aushängeschilder des sozialistischen Landes spezielle Vorteile genossen. Mit Gastspielen konnten sie einen Blick hinter die Mauer werfen, der vielen Menschen in der DDR verwehrt blieb.

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Zirkus „Olympia“ (ab 1968 Zirkus „Berolina“) 1967 in Frankfurt/Oder (Foto: Otto Schmidt, Nordhausen/wikipedia)

Neben der Artistik bestimmten Tierdressuren und Clownerie die Programme des Staatszirkus, der mit der Staatlichen Fachschule für Artistik in Berlin eine eigene Kaderschmiede hatte und auch internationale Preise einstrich. Nach Aufspaltung, fehlgeschlagenen Plänen für einen multifunktionalen Zirkusbau und Liquidation ist das Unternehmen im Jahr 2000 gänzlich „personell und materiell abgewickelt.“ Auf ihrer Internetseite schreibt die Autorin, die 2017 mit ihrem Roman „Lostage“ (Residenz Verlag) ihr Debüt feierte: „Meine Texte spielen im Osten, weil ich glaube, dass es dort literarisch noch Dinge zu erledigen gibt. Die Themen speisen sich aus Leerstellen, Verwerfungen und aus den alten, noch wirkmächtigen inneren Landkarten.“

Bildhaft und Atmosphärisch

Mit „Bittere Wasser“ ist der Leipzigerin ein dicht komponierter Roman gelungen, der noch ein paar Seiten Umfang hätte haben können. Denn die Autorin nimmt den Leser nicht nur von Anfang in ihrer Geschichte auf, die teils märchenhaft erscheint und melancholische Züge trägt. Ihr Stil ist bildhaft und atmosphärisch, das wechselvolle Geschehen gefüllt mit besonderen Figuren sowie ihren kleinen wie großen Schicksalen. Vor allem die enge Beziehung zwischen Ida und den Elefanten, ihren Seelentieren, ist sehr berührend, so dass man das Bild von der Gigantin Judy und einem kleinen Mädchen sowie den Text eines Wiegenliedes, das durch die Zeiten lebendig bleibt, wohl nicht so leicht aus dem Kopf bekommt.


Tina Pruschmann: „Bittere Wasser“, erschienen im Rowohlt Verlag; 288 Seiten, 22 Euro

Bild von seth0s auf Pixabay

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