„Einige wenige Jahre besitzen wir die Fähigkeit, magisch zu denken.“
Es sind nur wenige Sekunden, die das Leben von Odd Marius Walaker verändern. Er stürzt mit seinem Fahrrad, geblendet von einer seltenen Münze. Und das auch noch auf dem Schlossplatz in Oslo. Seitdem ist nichts mehr wie es war. Der 14-Jährige spürt besondere Kräfte in sich wirken. Vor allem sein Denken und seine Wahrnehmung haben sich verschärft, sind intensiver geworden. Er glaubt, über die sogenannte W-Potenz zu verfügen, und nennt sich fortan die Walker Brüder. In seinem 2008 im Original erschienenen Roman („Jeg er brødrene Walker“) beweist der norwegische Schriftsteller Jan Kjærstad einmal mehr seine Meisterschaft für besondere, besonders skurrile Romane.
Mehrfach preisgekrönt
Ich muss vorwegnehmen, dass mich die Werke des Norwegers schon einige Jahre begleiten. Sie sind fester Bestandteil meiner Lesebiografie. Ich schätze seine spezielle Art des Schreibens, die sowohl in den einzelnen Szenen der Handlung und Personen als auch im Stil deutlich wird. Alles begann mit der „Wergeland“-Trilogie, zuletzt las ich mit sehr viel Begeisterung die zwei Romane „Das Norman-Areal“ und „Berge“. Beide letztgenannten Bücher sind im Wiener Septime Verlag erschienen, dem man sehr dankbar sein kann, dass Kjærstads Werke weiter ins Deutsche übertragen und veröffentlicht werden – wenn auch mit einigen Jahren Verspätung. In Kürze erscheint sein Roman „Femina erecta“. Der Norweger ist für sein Schaffen mehrfach preisgekrönt worden, in Deutschland wird indes die Fan-Gemeinde wohl noch immer recht überschaubar sein, dabei hat der gebürtige Osloer auch hierzulande sehr viel mehr Aufmerksamkeit verdient.
Als ich nun „Ich bin die Walker Brüder“ las, fiel mir eine Bezeichnung ein, die ganz gut den Stil Kjærstads beschreiben könnte: Seine Romane sind literarische Wundertüten, die Lektüre begleiten Überraschungen und Momente des Staunens. So auch dieser Band, der sich in zwei Zeitebenen gliedert. Im überwiegenden Part schildert der Held seine Erlebnisse, Gedanken und Gefühle als Jugendlicher. Man schreibt die Jahre 1983 bis 1985. Das Internet gibt es noch nicht. Musik wird noch von Schallplatten gehört. Norwegen ist dank des Ölvorkommens auf dem Weg, ein reiches Land zu werden. Odd Marius, Sohn eines Sinologen und einer erfolgreichen Architektin, ist in Mia verliebt, verguckt sich auch noch in die reife Nachbarin und entdeckt seine jugendlichen Triebe; angestachelt von den Schmuddelheften und nervigen „Unter der Gürtellinie“-Kommentaren seines besten Freundes Simon. Odd Marius zeichnet Hände, interviewt Fremde und nimmt die Gespräche per Diktier-Gerät auf. Sein Geschichtslehrer, der Alte Hellas, entdeckt die besonderen Fähigkeiten des Jungen und rät ihm, seine Erlebnisse und Gedanken niederzuschreiben. In Oslo treibt derweil ein Bomben-Attentäter, kurz 1984-Mann genannt, sein Unwesen, der Sprengstoff in Büchern versteckt.
„Wie lautet die Frage, auf die dein eigenes Leben die Antwort ist?“
Und dann gibt es immer wieder diese Sprünge in die Zeit nach der Jahrtausendwende. Mehr als 20 Jahre sind vergangen, Walaker ist mittlerweile Regierungschef und das Land in großer Not. Welche Bedrohung es meistern muss, vor welchen Gefahren es steht, bleibt indes im Dunkeln und wird nur wage formuliert. Es geht um Terror, um biologische Waffen. Klar ist nur, Walaker muss als Kopf eines Krisenstabes einen Weg finden.
Eine erstaunliche Themenvielfalt und ein Reichtum an erinnerungswürdigen Passagen zeichnen diesen Roman, der Grenzen überschreitet, aus. Denn es gibt kaum einen Bereich, den der Norweger in seinem Werk nicht verhandelt. Es geht um die besondere Zeit der Jugend, um Kunst und Kultur, um Geschichte und Politik, um Freundschaft und Liebe. Tragödien begleiten das Leben der Walakers. Odd Marius‘ Schwester stirbt als kleines Kind bei einem tragischen Unglück. Während der Geburt des Jungen im Jahr der Apollo-Landung 1970 erfahren die Eltern, dass das Kind noch einen Zwillingsbruder hatte, der allerdings im Mutterleib verkümmert war. Odd Marius wird zum Beobachter der Ehe-Probleme seiner Eltern und den gewalttätigen Ausbrüchen von Simons Vaters, der seine Wut an dem jüngeren Andreas auslässt, der eines Tages spurlos verschwindet. Alle Ereignisse sieht der jugendliche Held durch eine besondere Brille: Der Sturz am 1. Mai 1983 hat ihn wacher, sensibler, geistreicher und offener für die Welt werden lassen.
Kreative Sprache, ungewöhnlicher Satz
Die Besonderheit dieser teils skurrilen Geschichte und die Fähigkeiten des jungen Helden werden auch im Satz des Buches erkennbar, in dem in einigen Kapiteln durchgestrichene oder hervorgehobene Wörter sowie verschiedene Schrifttypen zu finden sind. Odd Marius verwendet als Ich-Erzähler seine ganz eigene, sehr kreative Sprache mit ungewöhnlichen Wörtern und Eigenkreationen wie „kopernikanisch“ und „chaplin“, die er als Adjektive verwendet. Dem Übersetzer Bernhard Strobel sollte man deshalb ebenfalls Anerkennung zuteil werden lassen.
„Ich bin die Walker Brüder“ ist ein facettenreicher, überaus kluger, teils komischer, teils melancholischer Roman, der von der Kraft der Jugend und der Suche nach Identität erzählt und in dem der Autor auch mit seiner Kritik an der modernen konsumorientierten Gesellschaft in seinem Heimatland nicht hinter dem Berg hält. An seiner Stelle heißt es: „Vielleicht haben wir allzu lange geglaubt, Norwegen sei eine Art Planet, ein Mond mit einem eigenen Kreislauf um die Erde, unabhängig von den Problemen der Welt. Wir waren unantastbar. Unverwundbar. Tschernobyl längst vergessen.“
In der Reihe „Backlist“ werden Romane verschiedenster Verlage vorgestellt, die bereits vor einigen Jahren erschienen und womöglich bereits leicht in Vergessenheit geraten sind, doch die es wert sind, dass an sie erinnert wird. Bisher in dieser Reihe veröffentlichte Besprechungen gibt es zu:
Carmen Laforet „Nada“, Davide Longo „Der aufrechte Mann“, Per Petterson „Nicht mit mir“, Agota Kristof „Das große Heft“ , Michela Murgia „Accabadora“, Robert Seethaler „Der Trafikant“, John Wray „Die rechte Hand des Schlafes“, György Dragomán „Der weiße König“, Einar Már Gudmundsson „Engel des Universums“, Gila Lustiger „Die Schuld der anderen“, James Hanley „Ozean“, Becky Chambers „Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten“, Jochen Missfeldt „Solsbüll“, Maylis de Kerangal „Die Lebenden reparieren“, Niccolò Ammaniti „Anna“
Jan Kjærstad: „Ich bin die Walker Brüder“, erschienen im Septime Verlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel; 656 Seiten, 23 Euro
Seit ‚Rand‘ bin ich von diesem Schriftsteller fasziniert. Von da an erlebte ich seine Werke allesamt als ‚Wundertüten‘. Sehr besonders!
Vielen Dank, dass Sie sich ihm widmen.
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Es ist ein großes Anliegen von mir, auf den Autor und seine Bücher aufmerksam zu machen. „Rand“ habe ich allerdings noch nicht gelesen, es steht aber bereits im Regal. Viele Grüße
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ich habe noch nie etwas von ihm gelesen, aber deine Rezension macht Lust darauf!
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Freut mich, dass ich Dich auf Buch und Autor aufmerksam machen konnte. Viele Grüße nach Berlin
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