„Aber das hier war jenseits von allem, was man sich überhaupt vorstellen konnte.“
Jeder weiß, was er an diesem Tag gemacht hat, wo er gewesen ist. Der 11. September 2001 hat sich mit seinen schockierenden Ereignissen und Bildern in das Weltgedächtnis gebrannt. Rund 3.000 Menschen starben bei vier Flugzeugentführungen. Drei Maschinen flogen in das World Trade Center (WTC) in New York sowie in das Pentagon, den Hauptsitz des amerikanischen Verteidigungsministeriums in Washington, ein entführtes Flugzeug stürzte in Shanksville (Pennsylvania) nach dem Aufstand von Passagieren ab. Die Bilder der Terroranschläge, die kurz als Nine Eleven bezeichnet werden, gingen um die Welt, vor allem die der brennenden und einstürzenden Doppel-Türme des WTC. In seinem Band „Und auf einmal diese Stille“ vereint der amerikanische Journalist und Autor Garrett M. Graff mehrere Hundert Stimmen zu einer beeindruckenden Oral History dieses bedeutsamen Tages.
Entstehung ein Kapitel für sich
Graffs Recherche-Leistung ist grandios, das schon einmal vornweg. Neben mehr als 500 Zeitzeugen-Berichten wertete er 5.000 Dokumente verschiedenster Art aus, darunter Videos und Dokumentationen. Drei Jahre benötigte er für dieses umfassende Werk, das allerdings ohne die Hilfe weiterer Journalisten sowie Historiker und die Arbeit von Museen und Archiven, allen voran die des National September 11 Memorial and Museum in New York, wohl in dieser Form und dieser Komplexität nicht entstanden wäre. Anstoß bildete eine Recherche zu den damaligen Geschehnissen in der Air Force One, dem Flugzeug des amerikanischen Präsidenten, der damals George W. Bush hieß, und das sich kurz nach den Anschlägen als einziges Flugzeug in der Luft über US-amerikanischen Boden befunden hat. Die Entstehung des umfangreichen Bandes ist nicht minder spannend als der vielstimmige Haupttext, deshalb ist der Blick in das Vorwort sowie den Dank am Ende des Buches unbedingt zu empfehlen.
Darüber hinaus lohnt sich in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung mit dem Begriff Oral History und seiner Bedeutung. Rundum mit jener nicht ganz unumstrittenen, allerdings auch aufwändigen Methode in der Geschichtswissenschaft, bei der Zeitzeugen zu ihren subjektiven Erfahrungen und ohne nennenswerten Einfluss des Historikers beziehungsweise Forschers in Interviews zu Wort kommen. Sie wird auch als Erfahrungsgeschichte oder Erfahrungswissenschaft bezeichnet. Im Mittelpunkt steht dabei vor allem die Frage, wie spezielle Ereignisse die Menschen beeinflusst und unwiderruflich geprägt haben.
„Die Trümmer, die Betonteile, die Feuer. Ich sah Schuhe und Aktentaschen. Wir haben gedacht, wir wären in einem Kriegsgebiet. Es hat uns alle den Atem verschlagen. Wir konnten nicht fassen, was wir sahen.“
„Und auf einmal diese Stille“ stellt eine chronologische und detailreiche Chronik der damaligen Geschehnisse dar, die sich nicht einmal Hollywood vorstellen konnte, wie es an einer Stelle geschrieben steht. Der Titel verweist auf den Eindruck mehrerer Zeitzeugen, die die Anschläge auf die Doppel-Türme des WTC in New York erlebt – und überlebt haben. Vor allem die sinnlichen Eindrücke wie Geräusche, Bilder und Gerüche werden in dem Buch von Beobachtern und Überlebenden sehr genau geschildert, so dass die Lektüre dieses Bandes zu einer sehr eindrücklichen wird.
Stimmen aus den verschiedensten Bereichen
Alles beginnt mit dem Vortag jenes unheilvollen Dienstags, dessen Folgen sogar von der Raumstation ISS aus dem All beobachtet werden konnte und sich wettertechnisch als wolkenloser Tag mit extrem klarer Sicht zeigte. Am 10. September fand eine Wiedereinweihung einer Feuerwehrwache in der Bronx statt, an der sich auch der New Yorker Bürgermeister Rudolph Guiliani beteiligte. Ein Ereignis unter den kleinen wie großen in der US-Metropole an der Ostküste, das allerdings wohl recht bewusst vom Autor gewählt wurde. Denn die Arbeit der Einsatzkräfte wie Sanitäter und Polizisten, von Feuerwehr und Sicherheitsdiensten, ihr übermenschlicher Einsatz und ihre zahlreichen Opfer stehen besonders im Mittelpunkt des Bandes, obwohl die Protagonisten des Buches aus den vielfältigsten Bereichen stammen. Sie waren Beschäftigte jener Firmen, die im WTC ansässig waren, Journalisten, die das Geschehen verfolgt haben. Zu Wort kommen auch Politiker, Schüler und Lehrer nahe gelegener Schulen, Militärs und Mitarbeiter im Pentagon, der Flugsicherung und weiterer Behörden, aber auch Angehörige der Zeitzeugen. Auch die letzten Botschaften von Opfern an ihre Familien sowie die Aussagen von Hinterbliebenen finden sich hier, was die Lektüre zu einer sehr berührenden macht. Graffs Werk zeigt allerdings ebenfalls deutlich auf, welche Hilflosigkeit und welches Entsetzen angesichts der verheerenden Lage, die viele als surreal beschrieben, geherrscht haben.
Die Anschläge, zu denen sich später das Terrornetzwerk Al-Qaida mit Osama bin Laden als Begründer an seiner Spitze bekannt hat, veränderte die Welt dramatisch und für immer und für wohl jeden von uns. Mit diesem Band, diesem Panorama des weltbewegenden Tages erhalten die Zeitzeugen sowie Angehörigen der Opfer eine Stimme. Gemeinsam bilden sie einen wirkungsvollen Chor, der davon berichtet, was bis heute kein Außenstehender jemals vollständig zu fassen und nachempfinden vermag.
Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „Buch-Haltung“.
Garrett M. Graff: „Und auf einmal diese Stille. Die Oral History des 11. September“, erschienen im Suhrkamp Verlag, in der Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Philipp Albers und Hannes Meyer; 537 Seiten, 20 Euro
Foto von Ged Lawson auf Unsplash