Im Duett #3: Mirko Bonné – „Der eiskalte Himmel“ & „Seeland Schneeland“

„Fahr ins weiße Land.“

Unendlich weiße menschenleere Weiten fern der Zivilisation: So präsentieren sich die Regionen rund um die beiden Pole unserer Erde. Sehnsuchtsziel der Forscher und Entdecker, das für einige angesichts der unwirtlichen Bedingungen jedoch zur letzten Ruhestätte wurde. Wenige Jahre nachdem der Norweger Roald Amundsen im Dezember 1911 den Wettlauf zum Südpol gewinnt, sein Kontrahent, der Engländer Robert Scott, mit mehreren Männern stirbt, bricht sein Landsmann Ernest Shackleton wenige Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Richung Antarktis auf, um den weißen Kontinent zu durchqueren. An Bord der „Endurance“ ist mit Perce Blackborow ein blinder Passagier, der als Merce Blackboro zum Helden in den beiden Romanen von Mirko Bonné „Der eiskalte Himmel“ und „Seeland Schneeland“ wird.

Shackeltons persönlicher Steward

Beide Bücher erschienen mit rund 15 Jahren Abstand.  Der bereits 2006 veröffentlichte Band „Der eiskalte Himmel“ schildert die Reise Blackboros ins ewige Eis. Er ist 17 Jahre alt und verliebt in Ennid, die Tochter des Schiffausstatters Muldoon. Mit einigem Fernweh in der Brust verlässt er trotzdem seine walisische Heimat. Doch seine Reise steht unter keinem gute Stern. Der Schoner, auf dem er in Newport anheuert, sinkt später vor der Küste Südamerikas. Blackboro und sein Freund, der Amerikaner William Blakewell, zählen zu den wenigen Überlebenden. In Buenos Aires legt wenig später Shackletons „Endurance“ ab – mit Blakewell als Matrosen, der Blackboro in einem Schrank zwischen Gummistiefeln und Ölzeug versteckt. Nach seiner Entdeckung wird der Waliser zur Küchenhilfe und zum persönlichen Steward Shackletons ernannt, der den Jungen unter seine Fittiche nimmt, für ihn zu einem Mentor und Vertrauten wird.

Über das subantarktische Südgeorgien, wo die Mannschaft auf eine Gruppe norwegischer Walfänger stößt, erreicht das Schiff samt Besatzung das Weddellmeer und unfreiwillig das Ende ihrer Expedition. Eingeschlossen im Packeis driftet die Endurance im Südpolarmeer. Ein Odysse sowie der Kampf ums Überleben beginnt – in einer eisiger Landschaft voller Zauber und Schrecken, die den Männern alles abverlangt und sie fürs Leben zeichnet. Körperlich wie seelisch.

„Seeland Schneeland“, jüngst erschienen, erzählt nun die Geschichte weiter, fünf Jahre nachdem die Männer um Shackleton zurückgekehrt sind. Aus Blackboro ist ein grüblerischer und schwermütiger junger Mann geworden, der die Stimme eines Mädchens mit sich im Kopf herumträgt, merkwürdige Vogelfiguren zeichnet, als Prokurist im elterlichen Unternehmen arbeitet und sich nach Ennid sehnt. Der Erste Weltkrieg sowie die Spanische Grippe haben unzählige Opfer gefordert. Ennid hat ihre große Liebe, den Flieger Mick, sowie ihren Vater verloren. Auch ihre Mutter lebt nicht mehr. Sie lässt ihre Freundinnen zurück und geht auf das Schiff „Orion“, das nach Übersee fahren soll, mit der Hoffnung auf ein neues besseres Leben. Doch ein verheerender Schneesturm bringt das Schiff, das einst in Deutschland mit dem Namen „Seeland“ erbaut wurde, nebst den rund 1.900 Menschen an Bord in Gefahr. Vor den schottischen Orkney-Inseln kommt es zur Havarie.

„Das Eisschelf des Rossmeers ist ein Gebiet unirdischer Trostlosigkeit, (…), ein Platz für seltsame Ahnungen, hervorgerufen durch den Verlust des Horizontes über einer Eisfläche. Aber, (…), das Rossmeer ist vergleichsweise berechenbar, solange man seiner irritierenden Ödnis standhält.“

Schnee und Eis bestimmen beide Bücher. War Blackboro in „Der eiskalte Himmel“ ins weiße Land gefahren, kommen Schnee und Eis nun zu ihm. Elemente, die jedes Leben herausfordern und an dessen Grenzen bringen können. Selbst den Menschen, der sich mit seinem eigens geschaffenen technischen Fortschritt sicher glaubt. Auch darüber erzählen beide Bücher: über den Drang und den Ehrgeiz des Menschen, Grenzen zu überwinden, Neuland zu entdecken, den Lauf seines Lebens zu bestimmen. Stand im ersten Buch noch die Frage, ob Flugzeuge die Welt erobern werden, die Weite der Welt für jedermann aufheben und beschwerliche Reisen erleichtern, gehören den Fliegern sowohl Gegenwart als auch Zukunft. Der reiche amerikanische Hotel-Tycoon Diver Robey, der sich wie Ennid an Bord des Dampfers befindet und die Besatzung mit seiner Arroganz und Trunkenheit auf Trapp hält, plant, Europa und Amerika mit einer Fluglinie zu verbinden. Über der „Orion“ schwebt in Hamburg ein riesiges Luftschiff. Es sind nicht die einzige Maschinen, von denen im Buch berichtet wird: Blakewell, der mittlerweile mit Blackboros Schwester verheiratet ist, hat sich ein Motorrad aus Übersee liefern lassen.

Von Liebe, Loyalität und Freundschaft

Beide Bücher erschaffen eindrucksvolle Welten, in die der Leser förmlich hineinkriechen kann, sei es die unwirtliche Landschaft, in die die „Endurance“ strandet, sei es die „Orion“, auf der sich Menschen unterschiedlichster gesellschaftlicher Schichten mit den verschiedensten Lebensplänen befinden. Die Szenen sind detailreich ausgestattet, die oft auch eigenwilligen Charaktere sehr lebendig und plastisch gestaltet – als Einzelfiguren mit all ihren Wünschen und Sehnsüchten, Stärken wie Schwächen, aber auch in ihren Beziehungen zu den anderen Protagonisten, die man so schnell nicht vergisst. Bonné, 1965 in Tegernsee geboren, für sein schriftstellerisches Schaffen mehrfach ausgezeichnet und darüber hinaus als Übersetzer tätig, beweist einmal mehr seine Größe als Erzähler beeindruckender Geschichten.

Obwohl seiner jüngster Roman durchaus für sich gelesen werden kann, lohnt es sich, sich beiden Bücher hintereinander zu widmen. Zum einen, weil man dem Haupthelden Blackboro, der in dem früher erschienenen Roman die Rolle des Ich-Erzählers übernimmt, sehr nahe kommt, zum zweiten, weil es faszinierend ist, sich mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Bände zu beschäftigen. Für „Seeland Schneeland“ ist etwas Geduld vonnöten, ehe der Leser letztlich in den Strom des Erzählens eintaucht, die detailreichen Szenerien in seinem Kopf entstehen, er Freude an den lebendigen Dialogen findet und der Humor, der bereits das erste Buch bestimmt, sich zu erkennen gibt. Die ersten Seiten mit teils etwas sperrigen Sätzen machen den Leser erst mit der Lebenssituation und der Gedankenwelt Blackboros vertraut.

Trotz aller Dramatik und Gefahren verbreiten beide Bücher, die auch von Liebe, Loyalität und Freundschaft erzählen, eine besondere weil hoffnungsvolle Botschaft. Es ist nicht unbedingt der technische Fortschritt, der dem Menschen in misslichen Situationen hilft und rettet – die „Endurance“ wird vom Packeis wie ein Pappkarton regelrecht zerdrückt, der „Orion“ werden die Schneemassen zum Verhängnis -, es sind vor allem die Gemeinschaft und die Menschlichkeit, die Leben retten.


Mirko Bonné: „Der eiskalte Himmel“ und „Seeland Schneeland“, erschienen im Schöffling Verlag, „Der eiskalte Himmel“ bereits als Taschenbuch erhältlich, veröffentlicht im S. Fischer Verlag

Foto von Long Ma auf Unsplash

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