„Die Pfade der Menschheit sind weitverzweigt. Und nicht alle Straßen müssen zum Times Square führen.“
Zugegeben: Obwohl mir die ausgiebigen Strandtouren auf der Insel Usedom aus meiner Kindheit bestens in Erinnerung sind, vor allem dieses Durchhalte-Mantra „Ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm“, bin ich erst in den vergangenen Jahren zu einer leidenschaftlichen Wanderin und Flaneurin geworden. Kilometerweit am Meer entlang, durch Wälder oder die Straßenschluchten der Großstädte. Gehen ist existenziell, bewusstseinserweiternd, vereint das Gefühl der Freiheit mit dem Drang zur Entdeckung. Dass seit einiger Zeit dieses Thema auch in der Literatur verstärkt zu finden ist, hat sicherlich auch mit der Hinwendung zu Achtsamkeit und Entschleunigung zu tun. Auch der amerikanische Journalist Robert Moor hat über das Gehen und die Bewegung, vor allem über die Bedeutung von Wegen und ihre Entstehung ein ungemein bereicherndes Buch geschrieben.
Gesellschaftliches wie kulturelles Gedächtnis
Wege führen von A nach B, gestalten die Landschaft. Lange bevor es uns gegeben hat, formten die Tiere bereits die Welt. Moors Blick in die Vergangenheit führt weit zurück in die Urzeit und nach Neufundland, wo Fossilienpfade der prähistorischen Ediacara-Fauna – die vermutlich ersten mehrzelligen Tiere starben vor rund 54 Millionen Jahren aus – aus der Zeit des Präkambriums gefunden wurden. Kapitel für Kapitel bewegt sich der Leser langsam in Richtung Gegenwart, erfährt Wissenswertes über das komplexe Verhalten von Insekten, die effizienten Wege von Ameisen, die landschaftsgestaltenden Umtriebe der Elefanten und die Beziehungen zwischen verschiedenen Tierarten, um schließlich viel über die Rolle der indigenen Bevölkerung bei der Entstehung des Verkehrsnetzes Nordamerikas und die Bedeutung von Wegen für die Ureinwohner als gesellschaftliches wie kulturelles Gedächtnis im Raum zu erfahren. Spannend: seine Ausführungen, wie der Wander- und Bergsteigertourismus sowie das Bewusstsein für den Schutz der Natur im Zuge der Umweltbewegung entstanden sind, welche politischen wie wirtschaftlichen Bedeutungen Wege, die er letztlich mit Blick auf die moderne Technologie weiter fasst, haben.

Moor, der für seine journalistischen Arbeiten mehrfach ausgezeichnet wurde, ist selbst leidenschaftlicher Wanderer. Schon im Prolog berichtet er von seiner ausgiebigen mehrwöchigen Tour auf dem Appalachian Trail. Der etwa 3.500 Kilometer lange Fernwanderweg verläuft an der amerikanischen Ostküste entlang durch die US-amerikanischen Appalachen und 14 Bundesstaaten. Seine Endpunkte liegen bei Springer Mountain in Georgia und Mount Katahdin in Maine.
Sein internationaler Ableger entstand durch die Erweiterung des Weges nach Kanada sowie in Richtung Europa und Nordafrika. Die Idee entstand in den 90er-Jahren, Grundlage dafür waren Funde, die auf eine gemeinsame geologische Herkunft der Appalachen und mehrerer Gebirgsformationen auf der anderen Seite des Atlantiks schließen lassen. Gemeinsam bildeten sie vor Jahrmillionen eine Einheit, bis der Superkontinent Pangäa zerbrach und schließlich auseinanderdriftete. Moore ist sowohl den Ursprungstrail, der 1948 erstmals komplett gewandert wurde, als auch Teile des Internationale Appalachian Trail in Island und Marokko gewandert.
„Vielleicht gleicht Wissen eher einem Pfad, der sich durch die weite Landschaft windet – wie eine Mischform aus Karte und Gebiet, Vorstellung und Natur.“
Der amerikanische Journalist und Autor berichtet von den physischen Strapazen des Fernwanderns und den Einfluss auf Körper und Geist, von seinen Begegnungen mit der eigentümlichen Spezies der Fernwanderer und der engen Gemeinschaft, die sich unter Gleichgesinnten bildet. Moore gibt zudem Einblicke in die Begegnungen und Gespräche mit Wissenschaftlern, Jägern und Ureinwohnern sowie in seine Erfahrungen als etwas glückloser Schafhirte bei den Navajos. Sein überaus lesenswerter Band ist eine Fundgrube des Wissens, Erlebnisbericht, essayistische Abhandlung und geschichtlicher Abriss in einem und vereint interdisziplinär ganz verschiedene Wissensbereiche – von der Biologie und Geologie bis hin (Literatur)-Geschichte und Philosophie. Wer sich über dieses hochinteressante Thema weiter belesen will, dem sei der Band „Über alte Wege“ an Herz gelegt. Darin lädt der Niederländer Mathijs Deen zu einer Tour auf die Europastraßen ein und erzählt bekannte und weniger bekannte Kapitel aus der Geschichte des Kontinents.
„Ein Pfad entsteht, wenn sich Individuen zu einer Gruppe zusammentun, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen.“
„Wo wir gehen“, stets faszinierend und hochliterarisch, lebendig und überaus spannend, beweist als Reise durch Raum und Zeit, dass Wissenschaft mit ihren Daten und Fakten in der Kombination mit Erlebnissen und Erfahrungen alles andere als trockene Materie ist. Moors Buch kann darüber hinaus auch als eine Einladung verstanden werden, die Welt (wieder) als Gehender bewusster und in Verbindung mit der umgebenden Landschaft wahrzunehmen und neue Räume zu entdecken.
Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „LiteratUrwald“.
Robert Moor: „Wo wir gehen. Unsere Wege durch die Welt“, erschienen im Insel Verlag, in der Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Frank Sievers; 413 Seiten, 24 Euro
Foto von Evelyn Mostrom auf Unsplash