„Zuweilen verstand er sich als Rufer“ – Ein Interview mit Therese Hörnigk

Aus Anlass des 20. Todestages von Stefan Heym (1913 – 2001) am 16. Dezember veröffentlicht der Verlag C. Bertelsmann eine große digitale Werkausgabe des Schriftstellers und Publizisten. Von Mai bis Oktober dieses Jahres erscheinen 28 E-Books, die das vielfältige Werk des Autors in seiner ganzen Bandbreite abbilden: von historischen und zeitkritischen Romanen über Gedichte, Erzählungen, Reden, Essays bis hin zu Märchen. In jedem Band wird ein Nachwort der renommierten Literaturwissenschaftlerin Dr. Therese Hörnigk enthalten sein. In einem Interview für Zeichen & Zeiten gibt sie Auskunft über ihre Faszination für Heyms Werke, über seine Rolle als Dichter und Journalisten und warum man ihn noch immer lesen sollte.

Wie sind Sie einst dazu gekommen, sich mit Stefan Heym zu beschäftigen? Gab es einen besonderen Anlass?

Dr. Therese Hörnigk: Stefan Heyms Bücher, Essays und Wortmeldungen zu gesellschaftlichen und politischen Zeitereignissen haben mich seit meiner Schulzeit interessiert. Sie haben mich mein Leben hindurch begleitet. Den Antikriegsroman „Kreuzfahrer von heute“ haben wir schon in der Schule gelesen. Bücher wie „Der König David Bericht“, „Ahasver“, „Lassalle“ bis hin zum „Nachruf“ unter anderem standen seit der ersten Hälfte der siebziger Jahre im Fokus meines literaturwissenschaftlichen Interesses, ebenso die politische Publizistik wie „Offene „Worte in eigener Sache“ oder „Stalin verläßt den Raum“. Mich hat immer die Art und Weise beeindruckt, wie er sich kontinuierlich mit den Verwerfungen deutscher Geschichte auseinandergesetzt und sie mit Einzelschicksalen und archaischen menschlichen Handlungen verknüpft hat. Imponiert hat mir auch, dass sich Heym als kritischer Sozialist durch alle historischen Wenden hindurch treu geblieben ist und sich in die gesellschaftlichen Prozesse eingemischt hat, ungeachtet der Warnung Heinrich Bölls in Bezug auf sein unverdrossenes Einreden in laufende Diskurse: „Wer keinen Ärger macht, wird auch keinen haben.“

Therese Hörnigk_Copyright privat
Therese Hörnigk – Foto: privat

Schließlich konnte ich 2013 zum 100. Geburtstag von Heym den Band „Ich habe mich immer eingemischt“ herausgeben. Er enthält Erinnerungen von 52 namhaften nationalen und internationalen Persönlichkeiten aus Literatur, Politik, Wissenschaft, aus der Kunst und Theaterszene. Die aus unterschiedlichsten Blickwinkeln geschriebenen Beiträge bekunden Respekt und Hochachtung vor dem bedeutenden Werk eines Schriftstellers, in dessen besondere Lebensgeschichte sich auch für mich die Geschichte des 20. Jahrhunderts in all ihren Höhen und Tiefen spiegelt. Schließlich habe ich die Anregung des Verlages, den Begleitessay zur digitalen Gesamtausgabe seiner Werke zu schreiben, gerne angenommen.

Sie haben sich als Literaturwissenschaftlerin intensiv mit der Literatur der DDR auseinandergesetzt. Ich habe den Eindruck, sie wird nur noch von wenigen gelesen und auch geschätzt. Teilen Sie meine Meinung?

Diese Meinung teile ich natürlich nicht, wie Sie sicherlich vermuten werden. Stefan Heym, Christa Wolf, Heiner Müller, Volker Braun und viele andere, deren Werke in mehr als 30 Sprachen übersetzt in aller Welt gelesen werden, repräsentieren national wie international die deutschsprachige Literatur des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts ebenso wie Heinrich Böll, Günter Grass oder Ingeborg Bachmann, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und viele andere. Für mich steht vielmehr die Frage, inwieweit heutige Leserinnen und Leser in dieser digitalisierten Welt in Büchern noch allgemein berührende Lebensprobleme entdecken, etwa wenn es um die Darstellung des Konflikts zwischen Geist und Macht geht, um individuelle Selbstverwirklichung und verantwortungsbewusstes Handeln des Einzelnen, oder um die Erkundung von Anpassungszwängen in der modernen, globalisierten Gesellschaft.

Was würde Heym zur aktuellen Lage mit ihren politischen wie gesellschaftlichen Verwerfungen, der Wut, dem Hass und der Hetze in den öffentlichen wie medialen Debatten sagen? Welchen Rat würde er an uns richten?

Ich denke, er würde Stellung nehmen gegen rechte Ideologien und damit verbundene Gewaltaktionen, wie er es immer getan hat. Antifaschismus, Antirassismus und konsequente Verurteilung von Antisemitismus waren wichtige Koordinaten seiner Bücher, Essays, Erzählungen und politischen Kommentare. Dabei hat er sich lebenslang als Kosmopolit und kritischer Sozialist von keiner Ideologie in den Dienst nehmen lassen. 

Welches Thema würde er in einem neuen Roman verarbeiten, wenn er noch leben würde?

Ich vermute, dass er sich mit den eben genannten Problemfeldern weiterhin auseinandergesetzt hätte. Welche literarischen Bilder er dafür gefunden hätte, kann ich schwerlich erfinden. Er selbst hat angesichts der zunehmenden rechten Gewalttaten zu Beginn der 90er-Jahre davon gesprochen, dass Schriftsteller selbstverständlich keine Patentlösungen für jegliche Widersprüche bereit hielten, aber sehr wohl durch ihr Handwerk prädestiniert sind, Unbehagen, Ängste und die Gefahren, die daraus erwachsen, in lesbare Sätze zu fassen und die Fragen zu formulieren, mit denen nach Auschwitz Regierende wie Regierte konfrontiert sind, und er verwies darauf, dass die Suche nach den Antworten ein gemeinsames Unternehmen von Schreibenden und Lesenden sein müsse, die alle gleichermaßen betroffen seien, „gleich welcher Hautfarbe und Konfession und welchen Alters und Vermögens, Männer wie Frauen , Bekannte wie Unbekannte.“ Gleichzeitig sprach er sich gegen „computerisierte Kassandren“ aus. Damit meinte er Bücher und Stücke, worin die Schriftsteller in regelmäßigem Wehklagen oder Gejammer ausbrechen müssten.

In ihrem Nachwort zur neuen digitalen Werkausgabe schreiben Sie von Heym als Dichter und Journalisten. Wie hat sich diese Kombination auf seinen Blick auf Themen sowie auf sein Schreiben ausgewirkt?

Heym hat sich selbst von Beginn an als Erzähler und Publizist definiert. Literatur mit reportagehaften Elementen zu verknüpfen, sah er als wirkungsvolles Mittel zur Einflussnahme auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Er selbst sah sich in der Tradition der Schule amerikanischer Alltagsbeobachtung, die ihn stark geprägt hat. Zuweilen verstand er sich als Rufer, auch wenn es schien, „als ob nichts als Wüste um einen herum“ ist, konzedierte er in einem Gespräch. Ein Doppelleben als Dichter und Journalist habe er immer geführt, gab er zu Protokoll, denn es war für ihn als Autor wichtig, sich zuweilen „ohne poetische Ziererei“ den gesellschaftlichen Problemen zu stellen.

Viele sehen in Heym einen DDR-Schriftsteller…

Wenn man diese Zuschreibung der Literatur von Autorinnen und Autoren, die in der DDR gelebt und geschrieben haben 30 Jahre nach dem Zusammenbruch dieses Staats noch immer benutzt, klingt das für mich eher wie ein Etikett. Heym ist als jüdischer Emigrant aus Nazideutschland ins amerikanische Exil gegangen und hat als Soldat in der US-Army am Kampf gegen Nazideutschland teilgenommen. Nach dem Krieg ist er als streitbarer Sozialist und Weltbürger in die DDR gekommen. Bis zum Umbruch hat er dort geschrieben und war als einer der widerständigsten Kritiker mit internationalem Renommee im geteilten Deutschland präsent. Sicherlich sind die Eigenheiten der DDR, die Begrenzungen individueller und gesellschaftlicher Möglichkeiten in viele seiner Werke eingeschrieben, was ja nicht gleichbedeutend ist mit einer Wirkungskraft, die sich auf den Raum zwischen Kap Arkona und Fichtelberg beschränkte. Bis hin zum „Nachruf“ hat er einige seiner Bücher in der ihm vertrauten englischen Sprache geschrieben.

Stefan Heym
Stefan Heym (1982) – Foto: Marcel Antonisse, Anefo, Nationalarchiv der Niederlande, CCO

Eine Vielzahl seiner Bücher sind aufgrund der Verbotspraxis in der DDR zuerst in der Bundesrepublik beziehungsweise in viele Sprachen übersetzt, in der ganzen Welt erschienen. Ich denke, die Narrative interessengeleiteter Geschichtsschreibung werden heutzutage häufig als gültige Wirklichkeit dargestellt, so auch im Falle Stefan Heym. In seiner denkwürdigen Rede als Alterspräsident des Deutschen Bundestages hat er 1994 die Deutschen in Ost und West zur Solidarität im eigenen Land aufgerufen und für eine Koalition der Vernunft geworben. Angesichts der globalen Probleme beschwor er eine notwendige gegenseitige Toleranz: „Wie lange wird der Globus – der einzige, den wir haben! – sich die Art gefallen lassen, wie diese Menschheit ihre tausenderlei Güter produziert und konsumiert… die Menschheit kann nur in Solidarität überleben“.

Warum sollte er heute noch gelesen werden?

Weil Stefan Heyms Bücher, geschrieben voller Poesie, Fantasie und Streitlust, noch immer mit Gewinn zu lesen sind. Sie handeln von menschlichen Konflikten und Glücksansprüchen, ebenso wie von Versagen, durchlebten Hoffnungen sowie subjektiven und gesellschaftlichen Enttäuschungen. Häufig humorvoll und ironisch dargestellt, schildern sie Niederlagen und Gewinne. Seine Bücher und Essays sind eine Fundgrube für alle, die gerne lesen und die Lust haben, Gleichnisse aus der Geschichte kennenzulernen und sich mit den historischen Auseinandersetzungen zur Vermessung der Gegenwart auseinandersetzen.

Mit welchem Werk sollte ein Leser beginnen, der Heyms Bücher noch nicht kennt? Gibt es ein Werk, das nur wenigen bekannt, aber besonders empfehlenswert aus ihrer Sicht ist?

Beginnen würde ich mit dem 1988 geschriebenen autobiografischen „Nachruf“. Spannend geschrieben, wird die Lebensgeschichte eines Menschen erzählt, der die verschiedensten historischen Phasen als Jude, Antifaschist und Sozialist, je nach dem Blickwinkel des Rezipienten als Renegat oder Dissident durchlebt hat. In dieser deutsch-deutschen Lebensgeschichte werden die historischen Bilder neu zusammen gefügt und gedeutet.

Welche Schriftsteller und Werke haben ihn geprägt?

Heym sah seine literarischen Wurzeln in der englischen und amerikanischen Literatur. Twain, Dickens, Hemingway oder auch Conrad lagen ihm nach eigenem Bekunden näher als Thomas Mann oder Fontane.

Gibt es noch weiße Flecken in der Heym-Forschung?

Ich habe sowohl in der deutschsprachigen als auch internationalen, umfassend vorhandenen Forschungsliteratur noch keine ausmachen können. Sicherlich werden künftige Generationen auch neue Schwerpunkte setzen und die Bücher unter veränderten Lebenssituationen und Blickwinkeln neu vermessen.

Seit 2008 verleiht die Stadt Chemnitz den Internationalen Stefan-Heym-Preis. Außer den Preisträgern seitdem, welche Autorinnen und Autoren sehen Sie noch in der Tradition Heyms?

Der erste Preisträger war der israelische Schriftsteller Amos Oz, den Heym sehr geschätzt hat. Auch Christoph Hein gehört zu den Preisträgern. 2020 haben der Schwede Richard Schwartz und die Kroatin Slavanka Draculic den Preis zugesprochen bekommen. Beide beschäftigen sich literarisch mit Gegenwartsthemen und sind auch publizistisch tätig.

Was wünschen Sie sich für die neue digitale Werkausgabe? 

Ich bin selber sehr gespannt, wie die Werkausgabe im E-Book-Format bei der Leserschaft ankommt, deren Normen und Werte sich in unserer schnelllebigen Zeit verändert haben. Wer Lust auf Entdeckungen hat, wird nicht enttäuscht sein von dem Fundus literarischer Bilder und Fantasien, angereichert mit humorvollen und satirischen Mitteln, die die Werke Stefan Heyms auch enthalten.

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Dr. Therese Hörnigk war von 1972 bis 1992 Literaturwissenschaftlerin an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Danach Lehr- und Vortragstätigkeit an der Humboldt-Universität und der Freien Universität Berlin, in den USA, Frankreich, Italien und Kanada. Von 1998 bis 2007 Leiterin des Literaturforums im Brecht-Haus, Berlin. Zahlreiche Publikationen zur Literatur des 20. Jahrhunderts, darunter Arbeiten zu Bertolt Brecht, zum „Bitterfelder Weg“, zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der frühen DDR-Literatur sowie zu Christa Wolf.

2 Kommentare zu „„Zuweilen verstand er sich als Rufer“ – Ein Interview mit Therese Hörnigk

  1. In meinem Elternhaus wurde Heym gelesen und ich habe mich gerne aus dem elterlichen Buchregel bedient und vieles von ihm gelesen. Etliche sind über Flohmarktstöbereien auch in mein Bücherregal eingezogen.
    Jetzt habe ich große Lust bekommen, Heyms Bücher noch einmal in die Hand zu nehmen und vielleicht fange ich, wie empfohlen, mit dem Nachruf an, der mich damals, als ich ihn zum ersten Mal las, sehr nachhaltig beeindruckt hat.
    Vielen Dank für das Interview!

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    1. Sehr gern geschehen und vielen Dank für Deinen ausführlichen Kommentar mit dem Einblick in den elterlichen Bücherschrank. Ich habe in einem meiner Regale eine ältere Ausgabe des Romans „5. Juni“, die einst im Besitz meiner Eltern war, stehen. Ich würde mich sehr freuen, wenn das Interview einen Anstoß geben konnte, den Schriftsteller wieder oder neu zu lesen. Viele Grüße

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