Helga Schubert – „Vom Aufstehen“

„Ich lebte in vielen Rollen.“

Aufstehen – sich erheben, sich aus liegender Stellung aufrichten, das Bett verlassen, sich auflehnen, Widerstand leisten, rebellieren. Viele Bedeutungen enthält der Duden zu diesem mehrsilbigen Verb. Bedeutungen, die durchaus auch auf den preisgekrönten Erzählband der Schriftstellerin Helga Schubert zutreffen. Ein Band, der in 29 Texten von ihrem wechselvollen Leben, ihren Erinnerungen und Gedanken erzählt. Ein Buch der Bilder, der Lebenskraft und Weisheit.

Mit Bachmann-Preis geehrt

Als die damals 80-Jährige im vergangenen Jahr den mit 25.000 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis für ihren Text „Vom Aufstehen“ erhielt, schien das Schicksal dem Leben ein Schnippchen zu schlagen. Noch 1980 war ihr die Teilnahme als DDR-Autorin versagt gewesen, da ihr die notwendige Ausreisegenehmigung von den Behörden verwehrt wurde.  40 Jahre – ein halbes Leben später – erhielt sie schließlich den Preis und damit eine der renommiertesten literarischen Auszeichnungen im deutschsprachigen Raum. Mit ihrem Band, der nach jener Erzählung benannt wurde, war sie zudem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Doch auch ohne jene weitere Würdigung – der Preis ging schließlich an Iris Hanika für ihren Roman „Echos Kammern (Droschl) – wird dieses persönliche Werk sich wohl bei vielen Lesern besonders einprägen.

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Es beginnt mit einer harmonischen Szene, die passend dazu den Titel „Mein idealer Ort“ trägt. Es ist  der erste Tag in den Sommerferien bei der Großmutter: die Ostsee ist nah, ein Stück Streuselkuchen liegt auf einem Teller in Reichweite. Es ist eine von Wärme umgebene Erinnerung, die der Autorin Kraft gegeben hat. „So konnte ich alle Kälte überleben. Jeden Tag. Bis heute“, heißt es da am Schluss der Erzählung.  Und es gab reichlich von dieser Kälte im Leben Helga Schuberts: das Trauma des im Krieg gefallenen Vaters, Flucht und Vertreibung, die schroffe und lieblose Mutter mit den strengen Augen, die Drangsalierungen, Demütigungen und Absurditäten des Staates, in denen die Autorin mit ihrer Familie 40 Jahre – ebenfalls ein halbes Leben lang – lebte.  Die DDR sei wie eine Brandmarke bei einem Zuchtpferd – man habe sie lebenslang, schrieb sie an einen Literaturprofessor auf Anfrage. Auch das wird in diesem Band geschildert. Wie auch jener Besuch eines Lektors aus dem Westen, die Schwierigkeit, in der DDR an die Werke des Schriftstellers Uwe Johnson heranzukommen. Die Sache mit der verweigerten Ausreise nach Klagenfurt darf natürlich da nicht fehlen genauso wie ein Hinweis auf die Überwachung durch die Stasi. Mit Blick aus der Ferne auf ihren Reisen erschien ihr das eingemauerte Land zwischen Harz und Oder wie ein „Zwergenland“, heißt es im Buch. Helga Schubert lebte an vielen Orten, immer auf der Suche nach einem Heimatgefühl.

„Dann kommt der immer weiter werdende Abstand zur Welt, nur noch zarte Spinnweben, leicht zerreißbar, verbinden die Schreibende auch mit den Menschen, die sie nun halten sollen an diesem kaum sichtbaren Faden.“

Neben dem Leben in der DDR, in der die Politik erheblichen Einfluss auf die Biografien der Menschen ausübte, hat die Geschichte ihrer Familie sie gezeichnet. Zum nie gekannten Vater fühlt sie eine tiefe Sehnsucht. Das Verhältnis zur Mutter, die 101 Jahre alt wurde, ist hingegen zeitlebens angespannt. Fast erleichtert erscheint sie, als sie in dem Gedanken an eine der biblischen zehn Gebote sanft korrigiert wurde:  Aus Lieben wird Ehren – mit Blick auf das geforderte Verhältnis zu den Eltern.  Im Gegensatz zu den eigenen Kindern ist ihr Mann, um den sie sich im Haus in Mecklenburg liebevoll sorgt, in stillen privaten Szenen oft präsent. Mehrere Begebenheiten und Erinnerungen finden sich mehrfach wieder gleich wichtiger Gedanken und Momente, die es gilt, festzuhalten.

Ode an die Literatur und das Schreiben

So ist „Aufstehen“ eine eindrückliche Lebensgeschichte und zugleich ein treffsicheres Porträt einer wechselvollen Zeit, in der ein entsetzlicher Krieg herrschte, ein Land geteilt und wieder vereint wurde.  Darüber hinaus ist dieses Buch eine großartige Ode an die Literatur und das Schreiben. An mehreren Stellen gibt es Verweise auf deren Bedeutung im Leben der Autorin, die in der Sprache immer wieder Kraft, Trost und Mut fand. Ein solches warmherziges wie weises Buch gibt es selten. Es hat einen besonderen Wert und verdient besondere Dankbarkeit verbunden mit der Hoffnung, das weiteres folgt.

Weitere Besprechungen gibt es auf den Blogs „literaturleuchtet“, „LiteraturReich“, „Buch-Haltung“ und „Bücheratlas“.


Helga Schubert: „Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten“, erschienen im dtv Verlag; 224 Seiten, 22 Euro

Foto von Sixteen Miles Out auf Unsplash

2 Kommentare zu „Helga Schubert – „Vom Aufstehen“

  1. Auch mir hat das Buch sehr gut gefallen! Eine ausgesprochen schöne Sprache, kluge Gedanken und ein interessantes Leben! Gerade auch für Menschen aus dem alten Westen sehr empfehlenswert!

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    1. Ich denke, Schuberts Buch ist eines, das bleibt. Ich wünsche mir sehr, dass auch Menschen aus den alten Bundesländern sich dadurch Eindrücke von der DDR-Zeit verschaffen. Vielen Dank für den Kommentar und liebe Grüße nach Berlin

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