„Aber die wahren Wunden sind andere. Die niemand sieht. Die die Leute im Geheimen tragen. Und die erklären alles.“
Seine Mutter war eine Prostituierte. Seinen Vater kennt er nicht. Als Jugendlicher wurde er straffällig und Handlanger eines kolumbianisches Kartells. Bis er verhaftet wurde, ins Gefängnis kam – und sich wandelt. Aus dem Kriminellen Melchor Marin wird ein Polizist. Mit „Terra Alta. Geschichte einer Rache“ startet der Spanier Javier Cercas seine Reihe um den Ermittler mit der ungewöhnlichen Vergangenheit. Ein spannender Auftakt, der 2019 mit dem Premio Planeta, dem höchstdotierten spanischen Literaturpreis, ausgezeichnet wurde und das vielschichtige Porträt eines besonderen Mannes mit einem dunklen Kapitel spanischer Geschichte verbindet.
Ritualtat oder Raubmord?
In einer Nachtschicht wird Melchor zum Landhaus der Adells gerufen, wo sich den Polizisten ein Bild des Grauens offenbart. Das betagte Ehepaar wurde gefoltert, verstümmelt und getötet. Auch die rumänische Hausangestellte wird ermordet aufgefunden. Die Nachricht von dem entsetzlichen Verbrechen verbreitet sich wie ein Lauffeuer in der sonst friedlichen Region Terra Alta. Denn die Adells sind die mächtigste Familie der Gegend. Ihnen gehört rund um eine floriende und international agierende Verpackungsfabrik ein ganzes Imperium, wodurch sie nicht nur Freunde haben. Eine Ermittlungseinheit wird gebildet, der Melchor angehört. Es gibt mehr Vermutungen, die von einer Ritualtat bis zum Raubmord reichen, als handfeste Spuren und Beweise, so dass nur nach wenigen Wochen die Ermittlungen auf Eis gelegt werden. Zum Unverständnis von Melchor, der schließlich auf eigene Faust ermittelt und mit seinen Recherchen in der Firma und der Familie in ein Wespennest sticht, was von der Polizei und den Angehörigen ungern gesehen wird. Bis ein tödlicher Unfall das Leben des Ermittlers und Familienvaters erneut für immer verändert…
Es ist nicht der erste tragische Verlust, den Melchor verarbeiten muss. Seine Mutter wurde einst vergewaltigt und ermordet. Ein Trauma, das ihn zeitlebens begleitet. Seine eigenen Ermittlungen führten damals ins Nichts. Dieser Rückblick in die Vergangenheit des Helden, wie er auf ungewöhnlichem Wege Polizist wurde und schließlich in die karge und ärmliche katalanische Region Terra Alta kam, wechselt sich ab mit dem Geschehen rund um den Mord an den Adells, wobei beide Erzählstränge Parallelen aufweisen – thematisch sowie mit Blick auf handelnde Figuren, so den Anwalt Vivales, der einst als väterliche Freund den Aufstieg Melchors unterstützt hat und noch immer dem Polizisten zur Seite steht.
Eine weitere Besonderheit des Helden zieht sich durch beide zeitlichen Ebenen: seine Leidenschaft für Bücher und das Lesen. Die mehrfache Lektüre des umfangreichen wie weltberühmten Klassikers „Die Elenden“ des französischen Schriftstellers Victor Hugo (1802 – 1885) hat sein Leben für immer verändert, zu seinem literarischen Vorbild wurde Inspektor Javert, der Gegenspieler des einstigen Sträflings Jean Valjean. Während seine Lesesucht, seine Begeisterung für die Romane des 19. Jahrhunderts, von seinen Kollegen oft belächelt wird, findet er in der Bibliothekarin Olga eine Seelenverwandte. Sie wird später seine Frau und die Mutter seiner Tochter.
„Vor allem erinnerte er sich an das Schweigen. Das Schweigen bei sich zu Hause. Das Schweigen im Dorf. Das Schweigen seiner Familie, die schweigend weinte, als hätte ein Angehöriger ein schreckliches Verbrechen begangen, ein Verbrechen, das sie für immer in Schuld und Schande stürzte.“
Cercas, Jahrgang 1962, Schriftsteller, Publizist und Literatur-Professor an der Universität Girona, dessen Werk bereits in zahlreichen Sprachen übersetzt wurde, zeigt eindrucksvoll die verschiedenen Gesichter seines Helden auf, den ehrgeizigen und klugen Ermittler, der um seine frühere Vergangenheit weiß, den liebenden Mann und Vater genauso wie den Hitzkopf, dessen Emotionen schnell hochkochen und der zur Gewalt neigt, wenn es um Ungerechtigkeit und Gewalt an Frauen geht. Sein hartnäckiges Streben, das Verbrechen an den Adells aufzuklären, lässt ihn den Verrat eines Freundes erkennen und führt ihn schließlich zum Mörder und dessen Helfer, der ein eigenes Ziel verfolgt. Denn der Patriarch der Familie hat einst selbst Schuld auf sich geladen. Dieser Blick zurück in die Geschichte des spanischen Bürgerkriegs – in der Region Terra Alta fand einst die Ebro-Schlacht, eine der größten Auseinandersetzungen des spanischen Bürgerkriegs, statt – sowie dessen furchtbare Folgen für das Land und seine Einwohner gerät allerdings leider allzu knapp und flüchtig, um damit dem Roman eine besondere Tiefe zu verleihen, obwohl sich Cercas bereits mit seinem international bekannten Roman „Soldaten von Salamis“ (2002) mit dem historischen Thema auseinandergesetzt hatte. Die Unabhängigskeitsbestrebungen Kataloniens sowie der islamistische Terror sind zwei weitere Themen, die Cercas in „Terra Alta“ verarbeitet.
Nächster Band erscheint im kommenden Jahr
Stilistisch zeichnen bildhafte Orts- und Personenbeschreibungen und lebendige Dialoge seinen 2019 im Original erschienenen preisgekrönten Roman aus, wenngleich die Sprache von Melchors Frau Olga an manchen Stellen etwas ruppig wirkt. Trotz alledem bereitet „Terra Alta“ gerade wegen seiner Vielschichtigkeit und Spannung, seines besonderen Helden und des speziellen Schauplatzes, der im herben Kontrast zur pulsierenden katalanischen Hauptstadt Barcelona steht, eine eindrückliche Lektüre. Im Band gibt es bereits eine Leseprobe für den zweiten Melchor-Fall. „Die Erpressung“ wird im kommenden Jahr erscheinen. Man kann gespannt sein.
Javier Cercas: „Terra Alta. Geschichte einer Rache“, erschienen im S. Fischer Verlag, in der Übersetzung aus dem Spanischen von Susanne Lange; 448 Seiten, 24 Euro