Kent Haruf – „Ein Sohn der Stadt“

„Jeder in Holt County weiß, was er getan hat.“

Er ist zurück, sitzt, etwas massiger geworden über die Jahre, in einem protzigen roten Cadillac in der Hauptstraße von Holt. Ralph Bird, Besitzer eines Bekleidungsgeschäfts, sieht und erkennt ihn zuerst: Jack Burdette, früher eine Sportskanone und ein Mann mit gutem Ruf und Ansehen, der mittlerweile gewaltig Dreck am Stecken hat. Denn vor acht Jahren war er von einem Tag auf den anderen verschwunden und mit ihm eine stolze Summe der Farmer-Kooperative, deren Chef er war. Jacks überraschende Rückkehr bringt erneut Unruhe in die sonst verschlafene Kleinstadt, in der nichts mehr ist, wie es einst war. In seinem zweiten, 1990 erschienenen Roman „Ein Sohn der Stadt“ erzählt Kent Haruf allerdings nicht nur die Geschichte des Betrügers.

Ein wiederentdeckter Autor

In allen sechs Romanen des Amerikaners Kent Haruf (1943 – 2014) ist die fiktive Kleinstadt Holt, in der Prärielandschaft Colorados, der Heimat des Autors, gelegen, Schauplatz. Mit seinem letzten Roman „Our Souls by Night“, 2017 in deutscher Übersetzung mit dem Titel „Unsere Seelen bei Nacht“ erschienen, setzte seitdem eine Wiederentdeckung und Würdigung des mehrfach preisgekrönten Verfassers ein, der unter anderem für den National Book Award nominiert war und den Dos Passos Prize und den Folio Prize erhielt. Zuletzt war sein Roman „Kostbare Tage“ aus dem Jahr 2013 erschienen, mit dem er sich auf ergreifende Art dem Tabu-Thema Tod, Abschied und Trauer zuwendet und mit dem meine Begeisterung für die Bücher des Amerikaners – zugegeben mit etwas Verspätung – ihren Anfang nahm. Mittlerweile können insgesamt fünf Romane Harufs in deutscher Übersetzung gelesen und entdeckt werden.

Haruf

Harufs Bücher sind keine dicken Wälzer, keine Schwergewichte in puncto Umfang, allerdings inhaltlich komplex und zugleich stilistisch sehr eingängig. Mit nur kurzen Sätzen, klaren wie ausdrucksstarken Wörtern schafft er eine bildreiche Szenerie und skizziert zugleich die Charaktere in einer eindrucksvollen Tiefe. Und wieder versammeln sich in „Ein Sohn der Stadt“ eine Handvoll besonderer Protagonisten. Allen voran Jack und Pat Arbuckle, der die Rolle des Erzählers übernimmt. Einst Mitschüler und College-Kameraden trennen sich schließlich ihre Wege, als sie junge Männer sind. Jack wird vom College geworfen und geht zur Armee, Pat absolviert sein Journalistik-Studium und steigt im Zeitungsverlag seines Vaters ein.

Die Jahre vergehen, Jack verlässt das Militär und kehrt nach Holt zurück. Wanda Jo, die ihn seit der Jugend anhimmelt, hofft noch immer, dass sie heiraten. Die Stadtgemeinschaft verehrt Jack, die Männer schauen zu ihm auf, so dass ihm der Manager-Posten der Farmer-Kooperative angeboten wird, als Doyle Francis den Hut nehmen und in den Ruhestand gehen will. Von einer Konferenz bringt Jack die zehn Jahre jüngere Jessie mit, Wando Jo ist vergessen, ihr Herz gebrochen. Doch eines Tages ist Jack verschwunden. Zurücklässt er die erheblich geschrumpfte Kasse der Kooperative – und seine Familie, denn seine Frau hat mittlerweile zwei Söhne zur Welt gebracht und ist mit einem weiteren Kind schwanger.

„Ich weiß nicht, wie Leute in anderen Gegenden den finanziellen Wert eines kleinen Mädchens veranschlagen, aber wir lernten im Mai jenen Jahres, dass hundertfünfzigtausend Dollar – abzüglich des Wiederverkaufswerts des Zweizimmerhauses im Zentrum der Stadt – eine Summe war, die angemessen schien.“

Harufs Roman schildert nicht nur Jacks Betrug, seine Flucht und folgenreiche Rückkehr nach acht Jahren. Der Blick geht weit zurück – in die Kindheit und Jugend der beiden Söhne der Stadt; denn so viel ist klar, der Titel bezieht sich nicht unbedingt nur auf den kriminellen Helden, sondern schließt auch den Erzähler und dessen Leben mit ein, zwei Antipoden, die nicht verschiedener sein können. Während Pat als Sohn des Verlegers in jungen Jahren nichts auszustehen hat und ein redliches Leben führt, wächst Jack in einem schwierigen Elternhaus auf, der Vater trinkt, die stille Mutter spielt Orgel in der Kirche. Einzig der Sport – er ist ein talentierter Football-Spieler – verheißt Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Doch nicht nur tragische Ereignisse, sondern auch sein unsteter Charakter verhindern dies. Der Erfolg kitzelt sein Ego, alle kreisen um ihn – beste Voraussetzungen für grenzenlose Rücksichtslosigkeit, Selbstverliebtheit und Größenwahn, eine ungute Basis für ein ruhiges Zusammenleben.

Wie eine Stadtgemeinschaft tickt

Denn der Fokus richtet sich zudem auf das Verhalten der Gemeinschaft, die wie im Fall von Jessi und des Buchhalters der Kooperative allzu schnell wie gnadenlos verurteilt und ausgrenzt, bei einem Helden wie Jack indes Scheuklappen zu tragen scheint. Der Gernegroß erhält freie Bahn und eine zweite Chance, auch dann als sein schlechter Charakter schon allzu offensichtlich ist. Eine Entwicklung, die den Leser wohl erst nach einer gewissen Einwirkzeit erschüttern wird. Eine sofortige ergreifende Wirkung haben jedoch all die tragischen Ereignisse und Verluste, die das Leben der Personen prägen und oft auch verändern: Auch Pat bleibt davon nicht verschont. Seine lieb- wie leidenschaftslose Ehe mit Nora zerbricht vollends nach dem frühen Tod der gemeinsamen Tochter. Er wendet sich Jessi zu, für die er tiefe Gefühle empfindet. Eine kurze Liebe erblüht…

„Ein Sohn der Stadt“ verbindet auf meisterhafte Art und Weise das Abbild einer Stadt-Gemeinschaft mit den vielschichtigen Porträts weniger Helden. Vielleicht noch nicht ganz so meisterhaft wie spätere Werke ist der Zweitling des Amerikaners trotzdem ein Pageturner, der mittels überraschender Wendungen und schrecklicher Ereignisse fesselt und einen Nachhall erzeugt. Auf das auch mit diesem Buch die Fan-Gemeinde des Autors weiter wächst.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „Peter liest“.


Kent Haruf: „Ein Sohn der Stadt“, erschienen im Diogenes Verlag, in der Übersetzung aus dem Amerikanischen von pociao und Roberto de Hollands; 288 Seiten, 24 Euro

Foto auf Natasha Chebanu auf Unsplash

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