„In der modernen Welt hing alles mit allem zusammen.“
Kolumbien. Über das südamerikanische Land weiß ich – zugegeben – nur sehr wenig. Kaffee, Fußball und Regenwald fallen mir ad hoc ein. Die Anzahl von Schlagzeilen in hiesigen Medien ist überschaubar. Dabei findet dort seit einigen Jahren ein nahezu unübersichtlicher, chaotisch erscheinender Krieg mit vielen Akteuren statt. Ein Krieg von vielen, die aktuell auf der Erde toben und die kaum Aufmerksamkeit erhalten. Wer über das Land und die derzeitigen Zustände mehr erfahren will, sollte zu dem aktuellen Roman des Amerikaners Phil Klay mit dem Titel „Den Sturm ernten“ greifen. Ein spannendes, überaus lehrreiches Buch – auch über die dortigen politischen wie militärischen Verstrickungen der USA.
Chaotische Zustände
In seinem Roman versammelt Klay vier Hauptakteure. Abel, ein Einheimischer, gerät als Jugendlicher in die Fänge des Paramilitärs, nachdem seine Familie nach einem Überfall auf das Dorf ermordet wurde. Lisette hat bereits über den Krieg in Afghanistan berichtet. Von den dort herrschenden Zuständen ausgelaugt, kehrt die Amerikanerin zurück in ihre Heimat, um jedoch wenig später die Reise nach Kolumbien anzutreten, um von dort über einen „erfolgreichen“ Krieg der Amerikaner zu berichten. Mason war als Sanitäter bei den Special Forces im Irak stationiert, ehe der zweifache Familienvater als Verbindungsmann nach Kolumbien entsendet wird. Juan Pablo ist Offizier in der kolumbianischen Armee, schon sein Vater war ein hochrangiger Soldat.
Klay erzählt zu Beginn ihre Geschichten aus deren Perspektive, verfolgt für einige Jahre deren Lebensweg, ehe er sie schließlich aufeinandertreffen lässt. Es sind die 2010er-Jahre, in denen die USA sowohl mit Personal als auch mit Technik eingreift. Eine Friedensvereinbarung soll auf den Weg gebracht werden, die allerdings selbst in der Bevölkerung auf wenig Gegenliebe stößt, obwohl vor allem die Landbevölkerung unter der Situation leidet, da Bauern um Schutzgeld erpresst werden oder gezwungen werden, Koka-Pflanzen, die den Grundstoff für Kokain liefern, anzubauen. Und die Gewalt nimmt kein Ende. Mit Hilfe des kolumbianischen Militärs und der Polizei will die USA sowohl die Macht der linken Guerilla-Truppen eindämmen, als auch die Drogenkartelle bekämpfen. In diesen chaotischen Zuständen wird die Journalistin Lisette während einer Fahrt ins Hinterland an der Seite einer Hilfsorganisation, die sich für die Rechte der Opfer einsetzt und deren Schicksale publik macht, entführt.
„Niemand glaubte, dass wir irgendwo, in irgendeinem Bunker, den Grund entdecken würden, aus dem wir hier waren, der dem Chaos, das um uns herum toste, Sinn und Bedeutung geben würde, oder dem Tod der Männer, die wir im Laufe des folgenden Jahrzehnts verlieren würden.“
„Den Sturm ernten“ ist eine teils auch blutige Lektüre. Klay schildert meist sehr bildhaft die maßlose Brutalität, wie Menschen im Kampf getötet, gequält und hingerichtet werden. Selbst vor Kindern und Frauen macht die Gewalt keinen Halt. Vergewaltigung ist ein Mittel des Krieges. Frauen werden geschändet und verstümmelt. Das Beispiel von Alma, deren Schicksal der Hilfsorganisation bekannt ist, erschüttert den Leser. Immer wieder steht die Zivilbevölkerung zwischen den Fronten, in der Schusslinie, wird als Druckmittel missbraucht.
Irak-Krieg hautnah erlebt
Klay zeigt vor allem auch auf, auf welchen Grundpfeilern – neben politischen wie wirtschaftlichen Interessen – die meisten Kriege fußen: ein global vernetztes System sowie eine moderne Technologie. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass ein getöteter Clan-Chef ersetzt wird, Soldaten von einem Krieg zum nächsten ziehen, die zunehmend hochtechnisiert sind. Der US-Amerikaner kann dabei auf sein fundiertes Wissen und seine persönlichen Erfahrungen zurückgreifen. Klay, 1983 geboren, diente in der US-Marine und erlebte den Irak-Krieg hautnah, war 2007 bis 2008 in der irakischen Provinz Al-Anbar stationiert. Nach seinem Militärdienst schrieb er sich für ein Studium am Hunter College in New York ein und besuchte den Veterans-Writing-Workshop der New York University. Seine Kriegserlebnisse mündeten in sein Debüt, den viel gelobten Story-Band „Wir erschossen auch Hunde“ (Suhrkamp), für den er den National Book Award in der Kategorie Fiction erhielt und mit dem er auf der Bestsellerliste der „New York Times“ stand.
Für den Laien erscheinen manche militärische Begriffe und Abkürzungen zunächst etwas fremd; ein erklärendes Wörterverzeichnis wäre da hilfreich gewesen. Nichtsdestotrotz ist „Den Sturm ernten“ ein erschütterndes Buch, in dem auch die Zuneigung des Autors für seine Helden, die fern des Krieges ein normales Leben führen wollen, Familienväter sind, deutlich wird. Gerade dadurch wird die Entsetzlichkeit eines Krieges überaus sichtbar. Klays Meisterwerk fungiert als „großes Panorama-Fenster“, das nicht nur einen Blick in die ferne Welt Kolumbiens, sondern auch in die für einen Zivilisten fremd erscheinende Welt von Soldaten und Söldnern ermöglicht. Eine Leseerfahrung, die tiefe Spuren hinterlässt.
Phil Klay: „Den Sturm ernten“, erschienen im Suhrkamp Verlag, in der Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Hannes Meyer; 495 Seiten, 25 Euro. Die Taschenbuch-Ausgabe erscheint im Dezember 2022.
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