Marianna Kurtto – „Tristania“

„Und warum ist nichts genug, nimmt nichts die Sehnsucht weg?“

Es gibt Eilande der Sehnsucht. Und es gibt Tristan da Cunha. Die schroffe, vom Südatlantik umgebene Insel gilt als eine der entlegensten bewohnten Inseln der Welt. Die Gestade von Südamerika und Afrika liegen Tausende Kilometer entfernt. Die finnische Autorin Marianna Kurtto hat die Handlung ihres neuen Romans „Tristania“ auf Tristan da Cunha angesiedelt. Darin erzählt sie vom Zerbrechen einer Familie sowie einer realen Katastrophe, den Vulkanausbruch im Jahr 1961 – und das mit einer Sprache von großer Kraft.

Für die Fremde die Familie aufgegeben

Lars zieht es aufs Meer – und in Gedanken weit weg. Seine Familie sieht er oft wochenlang nicht. Geduldig warten seine Frau Lise und sein Sohn Jon auf ihn. Wie viele andere Bewohner treibt er Handel mit Schiffen. Von einer seiner Reisen kommt er nicht mehr zurück. In England trifft er in einem Blumengeschäft auf eine Frau, in die er sich verliebt. Er lässt Frau und Kind zurück, richtet sich in der Fremde ein, die ihn schon immer gerufen hat, während das Leben von Lise und Jon ohne ihn weitergeht. Bis eines Tages der Vulkan auf der Insel ausbricht. Fast alle Bewohner werden im Zuge einer Rettungsaktion mit Schiffen aus der Gefahrenzone gebracht – bis auf Jon, der zurückbleibt. Im fernen England liest Lars in der Zeitung von dem Unglück; er begibt sich auf eine lange Reise zurück in die Heimat.

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Wer glaubt, in der Not findet das Paar und die Familie zusammen, den muss ich an dieser Stelle enttäuschen. „Tristania“ hält kein Happy End bereit. Es ist vielmehr ein melancholischer Roman, dunkel wie die Strände auf der Vulkaninsel, auf der das Leben von Mangel und Kampf gezeichnet ist. Denn dieser Ausbruch vor Ort verbindet sich mit der Lebensgeschichte von Lise und Lars und führt in deren Vergangenheit, erzählt von tragischen Geschehnissen und Geheimnissen, die zudem mit Martha, der Insellehrerin, in Verbindung stehen. Dabei wird die Handlung aus verschiedenen Perspektiven erzählt; auch der in sich gekehrte Jon erhält dabei eine Stimme.

„Aber es ist sinnlos, vom Leben Fairness zu verlangen, idiotisch, von einem Ort Gerechtigkeit zu verlangen, an dem der Wind immer wieder Kinder von Felsvorsprüngen ins Meer geweht und der heftige Regen Männer von den Bergen in ihr letztes Bad gespült hat.“

Während die Ereignisse rund um Lars‘ Reise und der spätere Ausbruch des Vulkans bildhaft, dicht und poetisch geschildert werden und für eine intensive Spannung sorgen, bleiben die Rückblicke in die geheimnisvolle Vergangenheit, die letztlich auch zum Zerreißen der Familie führen, leider eher vage. Anspielungen und Auslassungen verhindern, dass dieser Roman gerade durch die Schicksale der Frauen den Leser auch bewegt. Dies gelingt indes mit den Schilderungen der harten Lebensverhältnisse der Inselbewohner, die trotz ihrer Entbehrungen an ihrer Heimat hängen. Dass die überwiegende Mehrheit nach der Katastrophe im Oktober 1961 wieder zurückgekehrt ist, beweist diese Verbundenheit.

Abgelegen, aber Teil der Literatur

Beeindruckend ist natürlich auch die raue und besondere Kulisse des Romans, wobei die Inselgruppe schon mehrfach Eingang in die Literatur gefunden hat, was ich vor der Lektüre nicht geahnt hätte. 1506 von einem portugiesischen Seefahrer entdeckt und 1790 erstmals über eine längere Zeit bewohnt, gehört das Eiland heute zum Britischen Überseegebiet St. Helena, Ascension und Tristan da Cunha.  Die bekanntesten literarischen Darstellungen findet sich in Jules Vernes Roman „Die Kinder des Kapitän Grant“ sowie in Edgar Allan Poes Roman „Der Bericht des Arthur Gordon Pym“. Auch der österreichische Schriftsteller Raoul Schrott hat „Tristan da Cunha oder die Hälfte der Erde“ darüber geschrieben.

Marianna Kurtto, 1980 in Helsinki geboren, lebt seit einigen Jahren als Writer in Residence im Haus der preisgekrönten Schriftstellerin und früheren PEN-Präsidentin Eeva Joenpelto (1921-2004) in Myllykylä im Südosten Finnlands. In ihrem Heimatland erschienen bisher fünf Gedichtbände und zwei Romane. Sie wurde mit diversen Literaturpreisen ausgezeichnet. „Tristania“, 2017 im Original erschienen, ist ihr Debütroman, der für den Preis des Nordischen Rates nominiert war. Kurttos vielschichtiger Erstling lässt sinnieren über den Konflikt zwischen der Sehnsucht nach der Fremde und der Bindung an die Heimat, über die Frage, welcher Ort ist der richtige für das Leben, und beschäftigt sich darüber hinaus mit der Beharrlichkeit und Sesshaftigkeit von Menschen, die der Naturgewalten trotzen. Vor allem bleibt er auch wegen seiner überaus eindrücklichen Sprache, wunderbar von Stefan Moster ins Deutsche übertragen, in Erinnerung, die dem herben Charakter dieser besonderen Insel und ihrer Menschen gerecht wird.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog von Sören Heim.


Marianna Kurtto: „Tristania“, erschienen im mare Verlag, in der Übersetzung aus dem Finnischen von Stefan Moster; 304 Seiten, 24 Euro

Foto: michael clarke stuff/Wikipedia

2 Kommentare zu „Marianna Kurtto – „Tristania“

  1. Hallo Constanze,

    diese Insel kannte ich bis eben überhaupt noch nicht!
    Aber ich kenne Pitcairn, das ebenfalls zu den entlegentsten Inseln der Welt gehört. Und auch die Insulaner von dort kehren nach der Schulzeit im Internat (oder bei Verwandten) auf Neuseeland häufig wieder auf ihren Felsen zurück. Insulaner sind glaube ich ein ganz besonderes Volk.

    Das Buch wandert auf jeden Fall auf meine „Merken“-Liste.

    Liebe Grüße
    Kat

    Gefällt 1 Person

    1. Hallo liebe Kat, ich habe vor einiger Zeit einen Beitrag im mare-Journal über die Insel gelesen. Mir fiel er wieder ein, als ich dann dieses Buch gelesen habe. Schön, dass ich Dich neugierig machen konnte. Dafür kenne ich Pitcairn nicht. Viele Grüße

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