„Dieses Land ist zu alt und zu störrisch“, sagte meine Großmutter immer (…).“
Sie sind jung, ihr Leben liegt noch vor ihnen. Sie wollen frei sein, die Welt sehen. Doch Anja und ihre Freundin Milka leben in Moskau. Der spätere Umbruch mit Beginn der Ära Gorbatschow und die Folgen von Perestroika und Glasnost liegen noch in gewisser Ferne. Als Leonid Breschnew, der Generalsekretär der KPdSU, 1982 stirbt, sind sie 14 Jahre alt. Kaum einer kommt heraus aus diesem riesigen totalitären Reich namens Sowjetunion. Mit ihrem Debüt „Das Leben vor uns“ schreibt die russisch-amerikanische Autorin Kristina Gorcheva-Newberry über eine Jugend im Kommunismus und ein Land, das seine Kinder frisst.
sehnsucht nach der Welt
Die beiden, nahezu unzertrennlichen Freundinnen können nicht unterschiedlicher sein. Die eine ist eher rundlich, die andere schlaksig und dürr und wird deshalb auch Sprotte genannt. Anjas Eltern gehören zur Intelligenz, sind Wissenschaftler, denen die Regierung misstraut, ihre Großmutter hat die Leningrader Blockade überlebt. Milkas Vater starb, als sie noch ein Baby war, ihre Mutter lebt mit einem anderen Mann zusammen, Milka geht beiden aus dem Weg, die Beziehung zwischen Mutter und Tochter ist angespannt und unterkühlt. Aus dem Duo wird ein Quartett, als die Mädchen die Freundinnen von Alexei Lopatin und Petja Trifonow, der eine Maulheld und Muskelprotz, der andere ein kulturinteressierter Feingeist, werden. Eine Clique entsteht, die ihre Jugend mit Sex, Alkohol, Musik und Zigaretten auslebt, ihre Sehnsucht nach der Welt da draußen bleibt indes ungestillt. Freddy Mercury, der Held der jungen Protagonisten, ist weit entfernt. Nach einer Auseinandersetzung auf der Datscha von Anjas Eltern, eigentlich eine Idylle mit lauschigem Garten samt Apfelbäumen, zerbricht die Gruppe. Das Unheil nimmt seinen Lauf: Milka entdeckt, dass sie schwanger ist. Die folgenden Ereignisse überschlagen sich, mit Szenen, die den Leser erschüttern. Immer wieder bahnen sich Gewalt und Verzweiflung ihren Weg. Und Anja wird die Frage nach dem „Warum“ und das Gefühl von Schuld nie los.
Nach dem Umbruch, der das Land politisch wie wirtschaftlich auf den Kopf stellt, geht Anja als Austauschstudentin in die USA, arbeitet später dort als Dozentin für Literaturwissenschaften. Erst 20 Jahre später wird sie wieder in ihre Heimat reisen, als ihre Eltern sie um Hilfe bitten: Denn die geliebte Datscha, in denen die Familie und Anjas Freunde unbeschwerte Tage verbrachten haben, soll verkauft werden. Sie sieht, wie sich das Land verändert hat und begegnet dabei Lopatin wieder, der in den Geschäften um das begehrte Land kräftig mitmischt und der ihr schließlich das ebenfalls traurige Schicksal ihres früheren Freundes Trifonow erzählt.
„Man kann nicht in einer Gesellschaft leben und frei von ihr sein.“
Es scheint, die Autorin hat einiges aus ihren eigenen Erfahrungen in ihren Erstling einfließen lassen. Gorcheva-Newberry ist in Moskau aufgewachsen. Nach ihrem Studium an der Staatlichen Linguistischen Universität und ersten Berufsjahren als Dolmetscherin und Lehrerin emigrierte sie in die USA, wo sie Kreatives Schreiben und Englisch studierte. Für ihre Kurzgeschichten wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet, stand damit auch auf diversen Shortlists. Mit ihrem Debüt „Das Leben vor uns“, in Englisch verfasst, ist ihr ein ganz großer Wurf gelungen, meistert sie es doch auf beeindruckende Weise, einer wechselvollen und berührenden Coming-of-Age-Geschichte thematische Tiefe zu verleihen.
Tschechows Klassiker
Die Geschichte, von Anja selbst erzählt, gibt Einblicke in die politischen und wirtschaftlichen Zustände des Landes. Mangelwirtschaft und Armut sind genauso ein Thema wie die Unterdrückung regimefeindlicher Meinungen. Stets und ständig diskutieren Anjas Eltern über Politik, die Zukunft des Landes – im geschützten privaten Raum. Getrieben werden die Protagonisten von dem Zwiespalt zwischen der Verantwortung für ihr Heimatland und ihren Drang nach Freiheit. In manchen Aussagen der Charaktere könnte man gut und gerne Kommentare zum Heute lesen. Im zweiten Teil werden in den Dialogen die unterschiedlichen Sichtweisen von Anja auf Russland und die ihrer Eltern auf die USA deutlich. Die Entfernung und die verschiedenen Erfahrungen haben zu einer Entfremdung beigetragen. Die Vergangenheit spiegelt sich im Schicksal der Großmutter wider, die als Zeitzeugin der Leningrader Blockade – ein Trauma Russlands – ein dunkles Geheimnis mit sich trägt. Als die Wehrmacht von September 1941 bis Januar 1944 die Stadt mit Hilfe spanischer und finnischer Truppen einkesselte und Versorgungslinien kappte, starben mehr als eine Million Menschen.
Ein großes Thema ist jedoch vor allem ein literarisches. Immer wieder finden sich Verweise auf Anton Tschechows Klassiker „Der Kirschgarten“, 1903 entstanden und ein Jahr später uraufgeführt – kurz vor dem Tod des Schriftstellers und Arztes, der mit 44 Jahren im Schwarzwald-Kurort Badenweiler während eines Kuraufenthaltes an Tuberkulose stirbt. Nicht nur ähneln einige Namen aus dem Roman Figuren des Theaterstücks und spielen darüber hinaus mit der Hand geschriebene Auszüge des Werkes sowie eine Reise auf die Krim, wo Tschechow seine letzten Lebensjahre verbrachte, eine Schlüsselrolle. Gorcheva-Newberrys Debüt nennt sich im Original „The Orchard“, der Obstgarten. Auch die Apfelbäume im Garten der Datscha erinnern daran.
Der sprachlich eindrückliche wie überzeugende Roman erinnert womöglich den einen oder anderen an Ljudmilas Ulitzkajas Werk „Das grüne Zelt“ , in dem zwar nur von drei Freunden erzählt wird, aber auch dieses Buch schildert, wie die politischen und gesellschaftlichen Umstände letztlich das Leben der jungen Menschen prägen. Und auch in dem bereits 2010 erschienenen Roman sind die Literatur und die Liebe zur Literatur sowie die Frage nach der russischen Seele entscheidende Konstanten. „Das Leben vor uns“ ist eines der großen Debüts des Jahres, ein meisterhaftes Buch, das einen fesselt und bewegt.
Kristina Gorcheva-Newberry: „Das Leben vor uns“, erschienen im Verlag C.H. Beck, in der Übersetzung aus dem Englischen von Claudia Wenner; 359 Seiten, 25 Euro
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