„Hier oben zu sein, hat keine Bedeutung – das zu begreifen, ist das Schwierigste.“
Was treibt Menschen an, die höchsten Gipfel unserer Erde zu besteigen. Trotz der Strapazen, trotz der Gefahren. Nicht wenige haben ihre (Sehn)sucht nach den Bergen mit ihrem Leben bezahlt. Über eine spezielle Männerfreundschaft, die Berge und das Bergsteigen hat der Niederländer Toine Heijmans einen großartigen Roman geschrieben. „Der unendliche Gipfel“ erteilt dem Leser einige Lektionen – zur Geschichte des Kletterns und in Sachen Demut.
Walter & Lenny
Jetzt stellt sich auf den ersten Blick die Frage: Was treibt einen Niederländer an, über die höchsten Berge der Welt zu schreiben? Gerade mal 322 Meter hoch ist die höchste Erhebung unseres Nachbarlandes, der Vaalserberg. Dabei haben in der Vergangenheit niederländische Bergsteiger es geschafft, für die eine oder andere Schlagzeile zu sorgen. Lenny Tichy und Walter Welzenbach heißen die Helden in Heijmans Roman. Wer sich bemüht, Google zu befragen, stößt dabei auf einen realen Wilhelm „Willo“ Welzenbach (1899-1934), der 1934 an der Deutschen Nanga-Parbat-Expedition teilgenommen hat. Der gebürtige Münchner starb beim Abstieg am Nanga Parbat (8.125 Meter) an Erschöpfung. Eine Namensgleichheit, die wohl nicht zufällig gewählt ist. Denn die beiden Protagonisten frönen einer besonderen Leidenschaft: dem Bergsteigen.
Die jungen Männer lernen sich während des Studiums kennen. Lenny, der unzählige Bücher über das Bergsteigen angesammelt hat, lehrt Walter das Klettern. Ihr Übungsobjekt: eine Brücke in der Stadt, in der sie studieren. Dann geht es hinauf in die Bergwelt – in die französischen Alpen. Für den Aufstieg braucht es nicht nur Kraft, Durchhaltevermögen und Übung, sondern auch Vertrauen. Beide sind auf dem Weg nach oben aneinandergebunden, der eine sichert den anderen ab, was sie verbindet, aber die Freundschaft in extremen Situationen auch auf eine Bewährungsprobe stellt, wenn Lenny seinen Freund hinaufschleift. Beide werfen ihr Studium über Bord und lassen sich in Chamonix am Fuße des Mont Blanc nieder und machen sich langsam einen Namen als Kletterer. Die Heldengeschichten früherer Bergsteiger begleiten sie. Schließlich geht es aufs „Dach der Welt“, zum Himalaja, der Jahre später für Walter Schauplatz des letzten Aufstiegs ist, nachdem Lenny eine Familie gegründet, als Marketingdirektor die Karriereleiter erklommen und die Kletterseile an den Nagel gehängt hat. Für Walter eine Tour in wehmütiger Einsamkeit – angefüllt mit Erinnerungen und einem verändernden Blick auf seine große wie lebensgefährliche Leidenschaft.
„Die Erde existierte seit fünf Milliarden Jahren, der Mensch seit zwei Millionen – wir bewegten uns irgendwo zwischen den Schuppen der geologischen Zeit. Im Staub zwischen den Schuppen.“
Obwohl der Roman von der Perspektive Walters als Ich-Erzähler dominiert wird, ist Heijmans Buch reich an Gedanken und Themen, so dass es eine besondere Lektüreerfahrung bereitet. Der Autor bettet in diese berührende Erzählung über eine innige Freundschaft die Schicksale berühmter Kletterer ein, was nicht minder ergreifend ist. So findet sich darin auch die Geschichte der Schottin Alison Hargreaves und ihrem Sohn Tom, sie starb mit nur 33 Jahren während eines Sturms bei ihrem Abstieg am K2 (8.611 Meter), er verunglückte mit nur 30 Jahren am Nanga Parbat. Bekannt auch das Schicksal von Reinhold Messners Bruder Günther, der ebenfalls am neunthöchsten Berg der Erde sein Leben ließ. Mit Krücken bestieg Wanda Rutkiewicz 1982 den K2 bis zum Basislager, den sie als erste Frau zuvor erklommen hatte. Seit ihrem Aufstieg am Kangchendzönga (8.586 Meter) im Mai 1992 gilt die Polin als verschollen. Das Traurige an jenen geschichtlichen Exkursen ist nicht nur der Tod erfahrener Bergsteiger und der Verlust für ihre Familien. Ihre Überreste wurden erst oft Jahre oder gar Jahrzehnte nach dem Unglück gefunden – in dieser Welt der Extreme.
Zwischen Sucht und Sehnsucht
Hier leben keine Pflanzen, Tiere, Menschen, hier wird jeder noch so kleine Fehler, jede Schwäche mit dem Tod bestraft. Heijmans beschreibt diese „unmenschliche“ Gegend grandios. Diese Leere, diese Stille. Nur Eis, Stein, Schnee und Wind. Was die Kletterer antreibt, Gefahren in Kauf zu nehmen, an ihrem Körper Raubbau zu begehen, lässt sich wohl als eine Mischung aus Sehnsucht und Sucht beschreiben. Es ist egal, ob Walter sich Blutverdünner spritzt, andere Bergsteiger durch die Kälte Gliedmaßen verlieren. Der Berg ruft, der Mensch muss sich beweisen und bleibt angesichts der Größe dieser massiven Bergwelt, angesichts der schier unermesslichen geologischen Zeit mit all ihren Ereignissen und Veränderungen in Jahrmilliarden nur ein Wimpernschlag, ein Nano-Partikel.
„Berge wie dieser sind leblose Landschaften, kein Tier wagt sich hierher. Weit oberhalb der Baumgrenze. Was wir in einem Berg sehen – ein Ziel, einen Freund, einen Gott, einen Feind -, ist selbstgemacht. Der Berg hat damit nichts zu tun.“
Neben der Geschichte des Bergsteigens zeigt der Niederländer die Ausmaße des Massentourismus im Himalaja auf. Unzählige erklimmen Jahr für Jahr die Achttausender – Nepal besitzt rund 14.000 Gipfel, die höher sind als 6.000 Meter -, ihren umfangreichen Müll bergen indes die Einheimischen, deren Verhältnis zu ihrer einzigartigen Heimat ein ganz anderes, voller Respekt und Ehrfurcht ist. Die Sherpas verdienen an den Kletterern aus aller Welt das wenigste, wenngleich sie deren Auf- und Abstieg mühsam vorbereiten, sich selbst Gefahren aussetzen.
Heijmans, 1969 im niederländischen Nijmegen geboren, arbeitet als Journalist und Autor. Sein 2011 erschienenes Debüt „Op zee“ („Irrfahrt“) wurde als erster niederländische Roman überhaupt mit dem französischen Prix Médicis Étranger ausgezeichnet. Für sein Werk „Der unendliche Gipfel“ erhielt er den Preis des niederländischen Buchhandels verliehen, das nun auch in der Übersetzung von Ruth Löbner hierzulande entdeckt werden kann und sollte. Ein spannendes, vielschichtiges und eindrückliches sowie glänzend recherchiertes Werk, dessen deutsche Ausgabe zudem eine sehr schöne Gestaltung erhalten hat, ein Buch, das sich schon jetzt einen Platz auf meiner Top-Liste des Jahres verdient hat.
Toine Heijmans: „Der unendliche Gipfel“, erschienen im mairisch Verlag, in der Übersetzung aus dem Niederländischen von Ruth Löbner; 352 Seiten, 24 Euro
Sehr schönes Cover!
LikeGefällt 1 Person
Ja, die Gestaltung ist besonders, der Inhalt auch. Viele Grüße
LikeGefällt 1 Person