Joy Williams – „Stories“

„Wenn man erwachsen wird, fällt ein Schatten auf einen. Alles ist sonnig, und dann taucht über einem dieser verdammte Flügel oder irgend so was auf.“

Auf die literarischen Jahre der jüngeren Vergangenheit blickend, scheinen die USA für uns Europäer noch immer ein recht unbekanntes Land zu sein. Denn welch großartige (Wieder)-Entdeckungen sind doch zuletzt gemacht worden. Man meint, die herrliche Geschichte des süßen Breis als Vergleich zu bemühen oder vielleicht auch zu glauben, es gäbe ein schwarzes Loch, wo all die in Übersee (einst) bekannten und viel gelesenen Schriftsteller hineingefallen sind, um an der anderen Seite des Atlantiks nie aufzutauchen. Nun erscheint wieder ein Name, der „da drüben“ oft und viel und mit großer Bewunderung ausgesprochen wird, doch hierzulande selbst Kenner zwingt, die Suchmaschine zu benutzen: Joy Williams. 

texte aus vier Jahrzehnten

Die 1944 in Chelmsford/Massachusetts geborene Schriftstellerin, die mit Richard Yates und Raymond Carver an der Universität von Iowa studierte und an mehreren Universitäten des Landes Kreatives Schreiben unterrichtete, ist in mehreren Genres zu Hause. Sie verfasste Romane, Essays und Reiseführer, einen Namen hat sie sich jedoch hauptsächlich mit Kurzgeschichten gemacht. In ihrer Heimat reiht man sie ein in die Liste der Großen ihrer Zunft. Ein nun mit dem recht recht bescheidenen Titel „Stories“ erschienener Band vereint insgesamt 13 Texte aus einer vier Jahrzehnte währenden Schaffensphase von 1974 bis 2014.

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Das Buch ist keines, das man auf dem Nachtschrank liegen lassen wird, um vor dem Zubettgehen noch schnell eine Geschichte vor dem Einschlafen zu lesen. Dazu kommt es erst nicht, denn sowohl die einzelnen Stories als auch die Stories letztlich in ihrer Gesamtheit entfesseln einen großen Sog, so dass es mit der Nachtruhe wohl vorbei sein könnte. Den Beginn setzt die berührende Geschichte „Liebe“ um einen Prediger, der sich aufopferungsvoll um seine kranke Frau und die kleine Enkelin kümmert, weil deren Mutter auf einem Selbstfindungstrip gen Mexiko ist. Wie jede großartige Kurzgeschichte entfaltet sich das Leben der Figuren und ihr Umfeld mit jedem Satz, mit jeder Szene nach und nach. Auf die Erwartungen und Lesegewohnheiten der Leser pfeift die Autorin. Ihre Geschichten leben von plötzlichen Wendungen und skurrilen Situationen und merkwürdigen Begegnungen.

„Alles besteht zugleich fort und beginnt von Neuem, aber mit Träumen verhält es sich anders. Träume lassen sich nicht wieder zum Leben erwecken.“

In dem Text „Rost“ geht es um Lucy und Dwight. Er legt sich einen alten Ford Thunderbird, in dem zuvor ein Mensch gestorben war, zu. Stück für Stück nimmt dieses Auto das Leben des Paares in Beschlag. Es wird zu einem Bestandteil ihrer Beziehung. In der Erzählung „Kongress“ geht es um einen angesehenen forensischen Anthropologen, der besondere Fundstücke in Kartons erhält. Ein Student schenkt ihm einen Hirschlauf, aus dem der Wissenschaftler eine Lampe macht, zu der seine Frau ein besonderes Verhältnis beginnt, weil ihr Mann sie schlichtweg vernachlässigt.

Neben dem Fantastischen und dem Morbiden beschreibt Williams Allerweltsmenschen, die von Schicksalsschlägen heimgesucht worden sind, die unter schweren Krankheiten leiden, die ein Familienmitglied verloren haben, egal auf welche Weise. In der Erzählung „Die Mutterzelle“ kommen Mütter, deren Söhne und Töchter Mörder sind, zusammen, und teilen ihre Erinnerungen an ihre Kinder, als diese noch klein und „unschuldig“ waren. Es sind die einfachen Menschen, denen Williams‘ Aufmerksamkeit gilt, die Schauplätze sind nicht die Metropolen an Ost- und Westküste, sondern eher die Kleinstädte der Provinz.

Ungewöhnliche Sprachbilder

Dass Williams sich dem Thema Umweltschutz verschrieben hat, wird in der Geschichte „Die letzte Generation“ deutlich, die allerdings nicht auf die aktuelle Klimaschutz-Bewegung anspielt, da sie bereits weit vorher, Anfang der 1990er-Jahre, erschienen war. Tommy ist Halbwaise, nach dem Tod seiner Mutter versinkt sein Vater in tiefer Trauer und verliert seine Söhne aus den Augen. Die ehemalige Freundin seines Bruders wird zur Vertrauten des Jungen, die ihm ein Buch über ausgestorbene Tiere schenkt und ihm von den Folgen der Umweltzerstörung durch den Menschen erzählt. Oft sind es ungewöhnliche Beziehungen, von denen erzählt wird, zwischen Menschen, die nicht unterschiedlicher sein können.

Williams‘ Stil – souverän von Brigitte Jakobeit und Melanie Walz ins Deutsche übertragen – ist pointiert und präzise. Sie kann Szenen beschreiben, die an Gemälde erinnern. Ungewöhnliche Vergleiche und Sprachbilder lassen den Leser staunen. Eine beeindruckende Originalität, ein einzigartiges Sprachgefühl und eine berührende Sensibilität für den Menschen machen ihre meisterhaften Werke aus. Ihre Geschichten sind oftmals dunkel eingefärbt, erzählen von Trauer, Schmerz, Tod, wenngleich die US-Amerikanerin im Gegenzug ihre Protagonisten mit besonderen Stärken ausstattet – wie Mitgefühl, Mitmenschlichkeit, Tierliebe.

Da Wiederentdeckungen oftmals nicht nur mit einer einiger Perle einhergehen, sondern mit einer ganzen Reihe davon, sollte man nicht überrascht sein, wenn weitere Werke der Sonnenbrillen liebenden Schriftstellerin erscheinen. Und wer Williams einmal gelesen hat, der behält sie ganz fest in Erinnerung – und will mehr.

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Joy Williams: „Stories“, erschienen im dtv Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit und Melanie Walz; 304 Seiten, 25 Euro

Foto von Jen Theodore auf Unsplash

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