Carlos Franz – „Das verschwundene Meer“

„Wenn Tragödien sich wiederholen, tun sie das als Farce.“ 

Ein Kontinent, ein Ozean und mehr als 12.000 Kilometer liegen zwischen Laura Larcos Heimat Chile und ihrem zweitem Zuhause Berlin. Sie war geflohen, obwohl eine vielversprechende Karriere als jüngste Richterin Chiles vor ihr lag. Doch der Militärputsch 1973 machte damals nicht nur ihre Lebenspläne zunichte. Sie wurde Zeugin und Opfer brutaler Gewalt. In Deutschland kehrte sie der Juristerei den Rücken zu, arbeitet an der Philosophischen Fakultät der Freien Universität. Nun, 20 Jahre später, bringt sie der Ruf ihres früheren Mentors zurück in ihre Heimat.

Salpetermine wird zum GefangenenLager

Carlos Franz‘ Roman „Das verschwundene Meer“ führt den Leser denn auch in zwei Zeiten: in die ersten Wochen des Putsches, der auch Pampa Hundida, eine Pilgerstadt und Oase inmitten der Atacama-Wüste gelegen, erreicht, und in jene wenigen Tage, als Laura, nunmehr zurückkehrt, beginnt, wieder in ihrem früheren Beruf zu arbeiten. Sie will ihren Peiniger zur Rechenschaft ziehen: Major Cáceres hatte damals das Kommando übernommen, als in einer stillgelegten Salpetermine ein Lager für politisch Gefangene eingerichtet wurde. War sich Laura zu Beginn noch sicher, dass sie weiterhin das Recht verteidigen kann, wurde sie schließlich zu Cáceres Spielball, der sie quälte, sexuell missbrauchte und zu einem furchtbaren Pakt zwang. Sie opferte sich, um Menschen zu retten, um letztlich zu erfahren, dass sie hintergangen wurde.

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20 Jahre später haust ihr Peiniger, alt, einsam, entstellt, in einem Wohnwagen in den einer Geisterstadt gleichenden Ruine des Lagers. Laura muss sich ihrer Vergangenheit, ihren Ängsten und einer drängenden Frage ihrer Tochter Claudia stellen: Wo warst du, Mama, als all diese schrecklichen Dinge in deiner Stadt geschahen? Eine Frage, die Laura umtreibt, die wie eine Katalysator wirkt, als sich Laura mit ihren Erinnerungen auseinandersetzt. Ein seelischer Kampf, der ihr Innerstes nach außen kehrt, der sie veranlasst, ihrer Tochter, die allein nach Chile gereist war, um dort zu studieren,  einen langen Brief zu schreiben, der einen Teil dieses Romans bildet und mit dem sie auf die einstigen Geschehnisse zurückblickt.

Wiedersehen mit alten bekannten

Als Laura nach Pampa Hundida zurückkehrt, trifft sie alte Bekannte. Ihre große Liebe Mario, ein Radiomoderator, der ein großer Schriftsteller werden wollte, den früheren Bürgermeister, der sein Amt einst dem Putsch zu verdanken hatte, den Priester, den Polizisten und den Arzt der Stadt sowie Ivan, einen geistig Behinderten, der damals besonders an Laura gehangen hat. Gemeinsam mit dem jungen und ambitionierten Anwalt Tomáz Martinez Roth plant die Juristin, die Verantwortlichen des Putsches vor Gericht zu stellen. Doch Laura muss erkennen, dass viele die Vergangenheit am liebsten hinter sich lassen, ein Deckmantel des Schweigen darüber legen würden. Selbst ihr Mentor Velasco, nunmehr Justizminister des Landes, will sie von ihren Plänen abbringen. Es ist die Zeit eines archaischen Festes, unzählige Pilger hat es in die Stadt verschlagen. Die Stimmung ist ausgelassen und gelöst …

„Die Wüste war so extrem wie die Jugend: Beide gestatteten keine Grauzonen und keine Zwischentöne. Vielleicht war die Wüste deshalb immer der Ort der nackten absoluten Wahrheiten gewesen. Der absoluten Wahrheiten, die zu absoluten Absurditäten führten (….).“

Franz‘ Roman kann sowohl als Panorama des Landes mit seinen historischen Wurzeln als auch als allgemeine literarische Blaupause gelesen werden, die die Entstehung und Sicherung diktatorischer Verhältnisse beschreibt. Gewisse Mechanismen stützen die Gewaltherrschaft, verhindern allerdings später auch die Aufarbeitung der Vergangenheit. Laura erfährt, wie Menschen durch Mitläufertum oder auch aktives Handeln die neuen Verhältnisse stützen, wie letztlich Schweigen und der Wille zur Macht es unmöglich machen, die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen. Es geht um Schuld und Verrat, um Unschuld und Täterschaft, um Traumata und die Fragen und Anklagen der jüngeren Generation. Laura wird Claudia alles erzählen – auch ein dunkles Geheimnis.

Preisgekrönter Roman

Franz, 1959 als Sohn eines chilenischen Diplomaten in Genf geboren, studierte Jura und Soziologie in Chile. 1989 erschien sein erster Roman „Santiago cero“, dessen Manuskript mit dem ersten Preis eines lateinamerikanischen Literaturwettbewerbs ausgezeichnet wurde. Neben Romanen verfasste er zudem Kurzgeschichten. Franz war als Journalist und Kritiker für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften tätig, unterrichtete des Weiteren als Professor Literatur an der Georgetown University in Washington und der Universidad Diego Portales in Santiago de Chile.

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Statue Salvador Allendes (Foto: Wikipedia/Patricio Mecklenburg (Metronick)

„Wo einst das Paradies war“,  1999 erschienen, war sein erstes ins Deutsche übersetzte Buch und wurde mit dem Literaturpreis „Planeta“ ausgezeichnet. Für seinen Roman „Das verschwundene Meer“ („El desierto“) erhielt er den Premio Novela de la Nación-Sudamericana. Zum 50. Jahrestag des Putsches vom 11. September 1973 in Chile erschien der Roman nun aus dem Spanischen von Lutz Kliche ins Deutsche übersetzt. An jenem Tag putschte das Militär unter Führung von General Augusto Pinochet gegen die Regierung des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende, der sich das Leben nahm, als die Armee den Präsidentenpalast La Moneda stürmte. 17 Jahre dauerte Pinochets Militärdiktatur an. Tausende wurden ermordet und gefoltert, knapp eine Viertelmillion Chileninnen und Chilenen flohen ins Ausland.

Das Meisterhafte dieses hierzulande nur wenig besprochenen Romans liegt in seiner gedanklichen und thematischen Komplexität sowie in seiner virtuosen Sprachkraft. Mit Laura hat der Chilene eine charismatische Heldin inmitten eines mannigfaltigen Figurenensembles geschaffen, das die unterschiedlichen Ansichten, Wesenszüge und Verhaltensweisen abbildet, das aber auch stellvertretend steht für verschiedene politische wie gesellschaftliche Bereiche und Institutionen. Die Zweiteilung verleiht dem Roman eine Spannung, die allerdings Im Verlauf etwas an Intensität verliert, um sich schließlich auf den letzten Seiten erneut zu steigern. „Das verschwundene Meer“ ist fordernd – gedanklich vor allem in der Auseinandersetzung mit diversen gesellschaftlichen Themen und Fragen, seelisch mit Blick auf die verstörende Gewalt und Grausamkeit in all ihren Facetten und das daraus entstandene Leid der Toten wie auch das der Überlebenden.


Carlos Franz: „Das verschwundene Meer“, erschienen im Mitteldeutschen Verlag, in der Übersetzung aus dem Spanischen von Lutz Kliche; 487 Seiten, 30 Euro

Foto von Diego Jimenez auf Unsplash

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