Una Mannion – „Sag mir, was ich bin“

Von einem Tag auf den nächsten verliert Nessa zwei geliebte Menschen: ihre Schwester Deena und ihre Nichte Ruby. Deena ist plötzlich verschwunden, ihr Ex-Freund Lucas bringt die gemeinsame Tochter von Philadelphia nach Vermont. Die Jahre vergehen, aus Ruby wird ein Teenager. Nessa gibt die Hoffnung nicht auf, dass Lucas eines Tages für seine Tat zur Rechenschaft gezogen wird. Denn sie glaubt, er hat Deena getötet.

Ungeheuerliche Familiengeschichte

Bei den ersten Szenen des neuen Romans der irisch-amerikanischen Autorin Una Mannion denkt man unweigerlich an einen Krimi, in dem doch irgendwann endlich Ermittler auftauchen und sich Deenas Verschwinden annehmen werden.  Ungeduldigen sei an dieser Stelle gesagt, ohne allzu viel zu verraten: Die Polizei spielt eher eine Nebenrolle. Denn Mannion verschiebt den Blickwinkel und erzählt vielmehr eine ungeheuerliche Familiengeschichte, die Story einer unfreiwillig zerrissenen Familie und eines jungen Menschen, der nach seiner Identität und seinen Wurzeln sucht.

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Ruby wächst an der Seite ihre Vaters auf, der versucht, seine Tochter vom Rest der Welt mit allen Mitteln abzuschotten. Sie leben abgeschieden in einer Naturidylle nahe dem Lake Camplain. Lucas bringt Ruby das Jagen und Fischen bei, wie man als Selbstversorger etwas anbaut, Tiere hält. Die ersten Jahre unterrichtet Lucas sein Tochter selbst, bis die Schulbehörde durch einen Hinweis Wind davon bekommt. Erst in der Schule erhält das Mädchen Kontakt zur Außenwelt.

Ruby kennt ihre Mutter nur durch die Erzählungen ihres Vaters, der seine ehemalige Freundin schlecht macht, sie als eine verkorkste Frau, die ihren Verstand verloren hat, beschimpft. Wie Ruby setzt Lucas auch seine Mutter Clover auf seine cholerische und besitzergreifende Weise unter Druck. Die Spannungen wachsen, als Ruby selbstständiger wird, eigene Wege geht und ihre Herkunft hinterfragt. Denn eines Tages erhält sie ein Foto, auf dem sie mit einer ihr unbekannten Frau zu sehen ist.

„Irgendwann werden alle rausfinden, dass ich eigentlich leer bin. Keine Persönlichkeit, keine Geschichte, keine Familienanekdoten. Ich bin nichts, bis auf das, was mir erzählt wurde.“

Die Handlung erstreckt sich über 20 Jahre und springt zwischen den Zeiten und den Orten. Erzählt werden die Geschehnisse aus den Blickwinkeln von Nessa und Ruby. Wir erfahren, wie Lucas und Deena, die als Krankenschwester arbeitet und einst unter psychischen Problemen gelitten hat, sich kennengelernt haben, wie Nessa ihre Schwester immer wieder vor Lucas warnte und nach Deenas Trennung für ihre Schwester und ihre Nichte ein sicheres Zuhause einrichtete, und wie der Verlust von Deena und Ruby sich wie ein dunkler Schatten über die Familie legt. Nur Nessa ist es, die an ihrer Nichte festhält, aus der Ferne und mit Hilfe eines Privatdetektivs auf ihre ganz eigene Art Einfluss auf das Leben von Tochter und Vater nimmt.

„Sie hielten alle die Geburtsdaten absichtlich zurück, kappten bewusst alle Verbindungen zu Eltern und Verwandten. Auf diese Weise konnten sie Identität auslöschen und den Menschen das Gefühl geben, ein Niemand zu sein.“

In Philadelphia geboren und aufgewachsen, siedelte Mannion in den 90er-Jahren nach Irland, die Heimat ihres Vaters, über. Sie lehrt am Institute of Technology in Sligo und gibt gemeinsam mit Schriftstellerin Louise Kennedy und dem Autor Eoin McNamee die Literaturzeitschrift „The Cormorant“ heraus. Für ihre Gedichte und Kurzgeschichten wurde sie mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Mit ihrem Debüt „Licht zwischen den Bäumen“ hat Mannion vor gut drei Jahren einiges an Aufsehen auch hierzulande erregt. Wie „Sag mir, was ich bin“ erzählt ihr erster Roman ebenfalls von einem ungeheuerlichen Ereignis und dessen Auswirkungen auf eine Familie.

Mit Dagger Award geehrt

Und wie ihr Erstling ist auch ihr zweiter Roman psychologisch hochspannend, klug konstruiert und komplex, erzählt er doch sowohl über Manipulation und toxische Beziehungen als auch über die verzweifelte Suche nach der eigenen Identität, wenn die eigene Vergangenheit nicht nur weiße Flecken enthält, sondern auch auf Lügen aufgebaut ist. Fotos als Träger von Erinnerungen spielen eine wichtige Rolle. Spannung erhält der Roman durch eine Reihe überraschender Wendungen und natürlich durch die große Frage: Was geschah damals mit Deena?

Für ihren Roman erhielt Mannion den Dagger Award 2024 verliehen, eine namhafte Auszeichnung für Kriminalliteratur in Großbritannien. Ihr Roman beweist, wie vielfältig die Kriminalliteratur sein kann – und: dass es windige Ermittler nicht unbedingt für ein wirklich gutes Buch dieses Genres braucht.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „Buch-Haltung“.


Una Mannion: „Sag mir, was ich bin“, erschienen im Steidl Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Tanja Handels; 304 Seiten, 28 Euro

Foto von Ginabell Andujar auf Unsplash

2 Kommentare zu „Una Mannion – „Sag mir, was ich bin“

  1. Ich finde es großartig, wie sich der Steidl Verlag um aktuelle Literatur aus Irland verdient macht. Gerade habe ich in der ZEIT eine Rezension zum neuen Roman von Sebastian Barry gelesen, die mich auch sehr neugierig gemacht hat. Und Claire Keegan und Liz Nugent sind sowieso immer toll.

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