Simon Stranger – „Museum der Mörder und Lebensretter“

„Welche dunklen Schluchten und Abgründe konnten sich in den Tiefen eines Menschen verbergen?“

Donau. Ich denke da an Wasser, einen durch Länder strömenden Fluss. An bekannte Städte. Wien, Budapest, Bratislava, Belgrad. An eine Schiffsfahrt. Norwegische Juden verbinden diesen Namen jedoch mit einem niemals endenden Schmerz. Mit Leid, Tod und Auslöschung. Die MS „Donau“ brachte während des Zweiten Weltkriegs Hunderte Juden von Oslo nach Polen, wo die meisten in den dortigen Konzentrationslagern ermordet wurden. Dass Ellen und ihre Familie im Herbst 1942 nicht auf das deutsche Frachtschiff kamen, ist Fluchthelfern zu verdanken, die die Glotts über die Grenze nach Schweden brachten. Zwei von ihnen haben jedoch ein düsteres Geheimnis, das erst Jahre später aufgedeckt wird.

Bewegende Familiengeschichte

Letztlich sind es Mörder, denen es zu verdanken ist, dass die Frau des norwegischen Autors Simon Stranger überhaupt existiert, dass er mit ihr eine Familie gründen konnte. Denn Ellen ist die Großmutter von Rikke. Nach seinem 2019 erschienenen Roman „Vergesst unsere Namen nicht“, in dem er über das Schicksal von Rikkes Urgroßvater Hirsch Komissar und das Haus des gefürchteten norwegischen Gestapo-Agenten Henry Oliver Rinnan, in das später Ellen und ihr Mann Gerson lebten, erzählt, schildert Stranger in seinem neuesten Buch ein weiteres Kapitel aus seiner bewegenden Familiengeschichte, das nicht minder emotional wie spannend ist. Und wieder verwebt der norwegische Autor auf einzigartige Weise die unterschiedlichen Lebenswege und Schicksale sowie die Geschichten von Opfern und Tätern.

Nun treffen die Glotts, allen voran die 18-jährige Ellen, auf Peder Pedersen und Håkon Løvestad, die die Familie über die Grenze nach Schweden und damit in Sicherheit bringen. Es ist Herbst 1942. Die deutschen Besatzer haben in Norwegen mit der Deportation der jüdischen Bevölkerung begonnen. Frauen, Männer, Kinder, ganze Familien werden aus ihren Häusern vertrieben, enteignet und nach Polen gebracht. Wer kann, der flieht. Auch Rakel und Jakob Feldmann wollen weg – vor allem, nachdem ihr Sohn Hermann nach einer missglückten Flucht von Polizei und Gestapo gesucht wird. Doch das vermögende Ehepaar wird es nicht über die Grenze schaffen, Rakels und Jakobs Weg und Leben endet an einem kleinen See, wo sie von Peder und Håkon, die mit der ganzen Situation überfordert sind und um ihre und die Sicherheit ihrer Angehörigen bangen, heimtückisch ermordet werden. Erst Jahre später wird den beiden Männern der Prozess gemacht, da ist der Krieg bereits beendet und Ellen verheiratet und Mutter.

Akribische Recherche

Für seinen historischen Tatsachenroman hat Stranger erneut akribisch recherchiert. Seine wichtigsten Quellen sind die Bestände des Jüdischen Museums, des Holocaust-Center und der Nationalbibliothek in Oslo. Darüber hinaus besuchte der Autor die Gedenkstätte des KZ Sachsenhausen, in dem Peder Pedersen nach seiner Verhaftung als Fluchthelfer inhaftiert war – wie der spätere Begründer der Nansenhilfe für Flüchtlinge und Staatenlose, Odd Nansen, der ebenfalls im Roman Erwähnung findet. Die Gruppe Fluchthelfer, die unter der Bezeichnung Carl Frederiksens Transport zwischen Norwegen und Schweden aktiv war, rettete rund 1.000 Juden und Widerständlern das Leben.

Stranger schaut auch in seine eigene Familie, in der sich ein Kollaborateur befindet: Sein Urgroßvater Sigurd Wahl betrieb in Oslo eine gutgehende Druckerei, in der auch Hetzschriften der Nazi entstanden sind. Wahl wird später wegen Landesverrats angeklagt. Wie so viele Täter und Mitläufer kommt er glimpflich davon. Mehrfach hinterfragt Stranger deshalb Gerichtsurteile und die Folgen des Tuns von Tätern und Mitläufern.

„Alles, was existiert, ist miteinander verbunden, mit dichten und lockeren Drähten, sowohl in der Wirklichkeit als auch in der Erinnerung.“

Wie in „Vergesst unsere Namen nicht“ gibt Stranger seinem neuesten Werk eine besondere, faszinierende Form. Stand darin jedem Kapitel ein Buchstaben und ein Wort voran, das mit jenem Zeichen begann, zeigt sich der neue Roman in Form eines Museums mit insgesamt zwölf Sälen, einem Foyer und einem Ausgang. Um die gezeigten realen Exponate wie Fotos, Dokumente und Listen, eine Kinderzeichnung und ein Stempel mit dem Buchstaben J entwickeln sich Geschichten. Zahlreiche Abbildungen begleiten deshalb den Band, in dem es wieder keine stringente Handlung gibt, in dem dafür aber eine besondere Ordnung entsteht.

„All diese Angst. Ich weiß nicht, wie es in der Familie deiner Frau lief, aber wir, die wir direkt nach dem Krieg geboren wurden, haben die Angst unserer Eltern mitgenommen. Das ist unser Erbe.“

Stranger, Jahrgang 1976 und aufgewachsen im Osloer Stadtteil Lilleaker, studierte am Literaturinstitut in Bø sowie Philosophie an der Universität Oslo. Er veröffentlichte seit 2003 mehrere Romane sowie Kinder- und Jugendbücher. Für „Vergesst unsere Namen nicht“ erhielt der Norweger sowohl den Buchhändler-Preis seines Landes sowie den nicht minder renommierten Riksmålpris, den Literaturpreis der Sprachvereinigung Riksmålforbundet. Für „Museum der Mörder und Lebensretter“ war er für den norwegischen Buchhandelspreis nominiert.

Strangers neuestes Werk bringt in seiner Komplexität, aber auch Emotionalität dem Leser einmal mehr das ganze, noch immer unfassbare Ausmaß des Holocaust vor Augen – und die Folgen der NS-Gewaltherrschaft in Europa, die ohne örtliche Helfer in den einzelnen Ländern wohl nicht dieses Ausmaß gehabt hätte. Ganze Familien wurden ausgelöscht, Lebenswegen wurde ein plötzliches Ende gesetzt, unzählige Träume und Wünsche blieben unerfüllt. Ellen und ihre Familie haben über den Krieg hinaus mit den lebensbedrohlichen Erfahrungen zu kämpfen. Das dunkle Traumata brannte sich ein. Ellens Mutter kam in die Psychiatrie, ob ihr Tod ein Behandlungsfehler oder eher ein Suizid war, blieb bis heute ungeklärt.


Simon Stranger: „Museum der Mörder und Lebensretter“, erschienen im Eichborn Verlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Thorsten Alms; 368 Seiten, 22 Euro

Foto von Annie Spratt auf Unsplash

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