„Es ist alles andere als selbstverständlich, dass es uns gibt, die Dinge sind eben nicht einfach so, wie sie sind.“
Es geht diesmal ins ewige Eis, das indes beängstigend schwindet. Die angesehene Klimawissenschaftlerin Iona Grimstedt arbeitet auf einer Forschungsstation im Nordosten Grönlands, auf der Bohrkerne analysiert werden. Eines Tages verschwindet sie während eines gefährlichen Whiteouts, kann indes entdeckt und vor dem sicheren Tod in der Kälte gerettet werden. Wenig später wird sie erneut vermisst: Was ist auf dem Forschungsschiff „Anthroposcene“ geschehen, das die Wissenschaftlerin an der Seite ihres Mann Torsten eigentlich sicher nach Hause bringen sollte?
Cupidos vierter Fall
Der Fall ruft die Bundespolizei See auf den Plan – und Ermittler Liewe Cupido, der sich zu seinem Kollegen Xaver Rimbach gesellt, der bereits die ersten Besatzungsmitglieder auf dem Schiff vernimmt. Die Reihe um den deutsch-niederländischen Kommissar geht nach „Der Holländer“, „Der Taucher“ und „Der Retter“ damit in die bereits vierte Runde. Und Cupidos Schöpfer, der Niederländer Mathiijs Deen, beweist einmal mehr, dass großartige Krimis nicht unbedingt eines Blutrausches und wilder Verfolgungsjagden bedürfen. Seine wohltuend stillen, aber bildintensiven Romane wirken eindrücklich durch ihre Themen, die sie verhandeln. Und Band vier ist wohl der bisher düsterste.

Widmete sich Deen zuletzt beispielsweise der Seenotrettung und den Hinterlassenschaften des Zweiten Weltkriegs, geht es nun um ein brandaktuelles Thema: den Klimawandel, zu dem Grimstedt, deren wenige Überreste später von einem Fischerboot aus der Nordsee gefischt werden, geforscht hat. Dabei stießen ihre Erkenntnisse nicht nur auf Anerkennung und Respekt. Sie wurde mit Hass und Häme in den sozialen Medien überschüttet mit Folgen für ihre psychische Konstitution, wie Rimbach und Cupido schließlich herausfinden. War ihr Tod womöglich ein Suizid? Warum wurde der Notruf erst verspätet vom Kapitän der „Anthroposcene“ abgesetzt? Die beiden Ermittler erhalten von der Lotsin Anne Kat entscheidendes Material, das den Ermittlungen eine neue Richtung geben.
„(…), es gibt keine neuen Erkenntnissen, eigentlich kennt man schon alle Fakten, und trotzdem wartet man noch auf irgendetwas …“
Der Name des Schiffes ist sicherlich nicht zufällig gewählt. Mit Anthropozän wird von Wissenschaftlern das aktuelle Zeitalter genannt, in der der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist. Der Begriff, der im Jahr 2000 durch den niederländischen Chemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen in die Debatte eingebracht wurde, ist indes nicht unumstritten und wurde beispielsweise im vergangenen Jahr von der Subcommission on Quaternary Stratigraphy abgelehnt. Dieses Expertengremium hat die Aufgabe, die Gliederung der Erdgeschichte zu definieren und zu vereinheitlichen. Unklar ist sowohl der Beginn des Zeitalters des Anthropozäns als auch die Frage, ob der Einfluss des Menschen so groß ist, ihm eine eigene Erdepoche zuzuweisen.
Komplexer Fall
Wieder verteilt Deen den Plot auf verschiedene Handlungsstränge, Orte und Protagonisten, was zu Beginn indes etwas Geduld beim Leser, der Leserin verlangt. Wir sind mal auf Helgoland, mal in Cuxhaven, auch nach Grönland führt der Plot. Ein wichtiger Handlungsort ist zudem das Forschungsschiff selbst. Der Fall ist nicht nur komplex und hat eine brisante Vorgeschichte, erzählt wird wieder aus Cupidos privatem Umfeld. Diesmal ist es seine Mutter, die ins Zentrum rückt. Anna war einst Wissenschaftlerin und kann ihrem Sohn wertvolle Hinweise für den Fall liefern. Ihre schwere Erkrankung bereitet ihm große Sorgen.
„,Man findet das, was da ist, aber auch, was fehlt‘, erwidert Liewe.“
Einmal mehr erzählt Deen von den seelischen Abgründen des Menschen. Von seiner Gier und seinem Größenwahn, seiner Missgunst und seiner Unfähigkeit, Kompromisse zu schließen, um ein friedliches Übereinkommen zu erzielen. Selbst in der wohl humorvollsten Szene, in dem es um einen Käsediebstahl und ein Unfall mit Folgen geht, kommt der Mensch – im Übrigen ein Polizist – schlecht weg. Über allem schwebt Melancholie, die vor allem in den Mails der desillusionierten Iona an eine Freundin und in Cupidos Trauer am Ende des Romans zu spüren ist.
Einzelgänger wird zum Mentor
Der neue Roman, in dem Deen seine Hingabe an die maritime Welt und sein Wissen über das Meer und vor allem über Schiffe wieder einfließen lässt, bringt ein „Wiedersehen“ mit Cupidos Freundin Miriam, wenngleich sie und die beiden Hunde diesmal eher im Hintergrund agieren. Aus dem wortkargen und einzelgängerischen Ermittler ist indes zunehmend ein Mentor geworden, der seinem jüngeren Kollegen Rimbach die ein oder andere Lektion erteilt und ihn vor der Kritik seiner Vorgesetzten verteidigt.
Ein privates Trauma des charismatischen wie klugen Helden wird allerdings noch immer nicht geklärt. Was ist damals bei dem tödlichen Unglück seines Vaters auf dem Schiff wirklich geschehen? Ein weiteres Buch muss also her. Die Fans wird’s freuen, wobei die Reihe durchaus auch neue Anhänger verdient hätte. Denn Deen setzt sich ab vom Gros der aktuellen Krimiliteratur und bildet einen wohltuenden Kontrast.
Weitere Besprechungen gibt es auf den Blogs „Petras Bücher-Apotheke“, „LiteraturReich“ und „Krimilese“
Mathijs Deen: „Die Lotsin“, erschienen im mare Verlag, in der Übersetzung aus Niederländischen von Andreas Ecke; 368 Seiten, 23 Euro

