Gerbrand Bakker – „Der Sohn des Friseurs“

„Das ganze Leben ist loslassen und sich festbeißen, beides gleichzeitig.“

Der Nachmittag des 27. März 1977 ging als eines der dunkelsten Kapitel in die Geschichte der Luftfahrt ein. Auf dem Flughafen Los Rodeos auf Teneriffa kollidierten zwei vollbesetzte Flugzeuge: eine Boeing 747 der US-amerikanischen Fluggesellschaft Pan Am und eine Boeing 747 der niederländischen KLM Royal Dutch Airlines. Insgesamt 582 Menschen starben bei diesem Unglück, das noch immer zu den schwersten Katastrophen seiner Art zählt.

Der unbekannte Vater

In diesen tragischen Minuten soll auch Simons Vater ums Leben gekommen sein. Seine Überreste wurden allerdings nie gefunden beziehungsweise identifiziert. Was bleibt auch von einem übrig, wenn solche immensen Kräfte wirken. Sein Name findet sich nicht auf der später errichteten Gedenkstätte auf dem Friedhof Westgaarde nahe dem Amsterdamer Flughafen Schiphol. Simon hat seinen Vater nie gekannt, der Monate vor seiner Geburt einfach verschwand und sich in den Urlaubsflieger in Richtung Kanaren gesetzt haben soll. Cornelius war Friseur, so wurde und ist es auch Simon, der das Geschäft seines Großvaters und Vaters in dritter Generation übernommen hat. Eine Art Kontinuität nach einem folgenreichen Unglück voller Zufälle, das viele Leben beeinflusst hat.

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Wie viele Figuren in den Romanen des niederländischen Schriftstellers Gerbrand Bakker, der zu den bekanntesten Schriftstellern seines Landes zählt und dessen Werke in zahlreichen Sprache übersetzt wurden, ist Simon – eben jener Sohn des Friseurs im Titel – ein ruhiger und unauffälliger Held, der Tag für Tag seiner Arbeit nachgeht, wenngleich mit wenig Ehrgeiz und Eifer, sondern eher als Gewohnheitstier. An der Wand seines Schlafzimmers hängen Plakate von berühmten Spitzen-Schwimmern wie Mark Spitz und Alexander Popow. Simon ist mittlerweile in seinen Vierzigern angekommen, er lebt allein und zurückgezogen, ab und an geht er mit einem Mann ins Bett. Seine sexuellen Vorlieben und die Suche nach intimer Nähe lebt er in seinen homoerotischen Fantasien aus. Seine Leidenschaft fürs Schwimmen nutzt eines Tages seine Mutter Anja aus, die Jugendliche mit einem Handicap in der Schwimmhalle betreut. Simon soll für eine ihrer Kolleginnen einspringen, die auf den Kanaren weilt.

„Menschen tun einfach bestimmte Dinge. Und Dinge geschehen. Das ist alles.“

Großvater Jan nimmt seinen Enkel eines Tages mit auf die kaum gepflegte Gedenkstätte in Westgaarde, die an die Opfer des einstigen Flugzeugsunglücks erinnert. Ein Stein kommt ins Rollen. Simon beginnt, sich für seinen Vater zu interessieren. Er stellt Fragen, die seine Mutter nur ungern beantworten will. Sie will die Geschichte am liebsten vergessen, da so viele Jahre mittlerweile vergangen sind. Während ihre Liebe zu Cornelius eine immer blasser werdende Erinnerung wird, wächst Simons Neugierde für die Vergangenheit seiner Mutter und seines Vaters, die letztlich Grundlage für sein eigenes Leben ist.

„Je mehr ich finde, desto stärker wird das Gefühl. dass ich nach ihm suchen muss.“

Allzu viel sollte an dieser Stelle nicht verraten werden, um es dem Leser zu überlassen, die Raffinesse dieser Geschichte selbst zu erfahren. Womöglich nur so viel, dass Simons Vater einen gewichtigen Part in diesem klug inszenierten Vater-Sohn-Porträt übernimmt, das immer wieder auch von den tragischen Ereignissen der Flugzeugkatastrophe erzählt. Bakker verbindet so eine fiktive Geschichte mit einer historischen Vorlage – wie auch in seinem 2011 erschienenen Roman „Tage im Juni“, wo nach dem Besuch der niederländischen Königin Juliana das Leben einer Familie in einem kleinen Ort an der Küste durch einen tragischen Unfall für immer verändert wird.

Schriftsteller in „Nebenrolle“

Nicht nur ein Auszug aus diesem Roman hat Eingang in Bakkers neuestem Streich gefunden. Ein Schriftsteller taucht eines Tages bei Simon auf, um mehr über das Leben eines Friseurs zu erfahren. Er will darüber ein Buch schreiben, kommt regelmäßig zwischen seinen Lesereisen in den Salon, um mehr von Simons Leben und die Geschichte seines Vaters zu erfahren. Die Ähnlichkeiten zu Bakker sind verblüffend, der nicht versäumt Gedanken rund um das Schreiben, das Lesen und die Freiheit des Schriftstellers reichlich Raum in seinem neuen Roman zu geben.

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Gedenkstätte auf dem Friedhof Westgaarde (Foto: Wikipedia)

„Der Sohn des Friseurs“ berührt ob seiner Melancholie und seines menschlichen Blickes auf das alltägliche Leben und das unaufhörliche Vergehen der Zeit – und beweist, dass hinter den kleinen Geschichten oft auch ganz große stecken. Und es ist wieder die Familie, die Bakker umtreibt. Beziehungen, gemeinsame Erlebnisse, Geheimnisse und Spannungen. Trotz aller Trauer und Einsamkeit darf ein leiser wie auch verschmitzter Humor nicht fehlen. Am Ende könnte sich in Simons Leben eine große Veränderung ereignen, wenn es denn der Leser mit seiner Vorstellungskraft auch will. Denn letztlich ist alles eine Frage von Entscheidungen.


Gerbrand Bakker: „Der Sohn des Friseurs“, erschienen im Suhrkamp Verlag, in der Übersetzung aus dem Niederländischen von Andreas Ecke; 285 Seiten, 25 Euro

Foto von Gabriela auf Unsplash

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