„In mir trage ich meine früheren Gesichter, wie ein Baum seine Jahresringe hat.“
Dichter haben viel zu erzählen, auch über ihre Werke hinaus. Sie erscheinen als mitteilsam, ohne dass ihre Worte jemals als überflüssig gelten. Ihre Beschreibungen, Erzählungen, Reflexionen und Analysen zeigen Bilder der Welt. Wie sie zum Schreiben gekommen sind, warum sie schreiben und welche Rolle dieser künstlerische Akt spielt, sind die interessantesten Fragen, die sich Literaturliebhaber stellen können und müssen. So sind Biografien, vor allem autobiografische Werke eine gute Quelle, um Antworten auf diese Fragen zu finden. Mehr noch: Sie zeichnen ein Bild des Künstlers selbst, über seine Werke hinaus.
Der 2011 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete schwedische Lyriker Tomas Tranströmer hat seine Erinnerungen an seine Kindheit in einem Band mit dem Titel „Die Erinnerungen sehen mich“ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Zeitspanne reicht dabei von seiner frühesten Kindheit bis hin zu den Jahren auf dem Gymnasium Södra Latin in Stockholm. Er beschreibt in kurzen Texten das Leben mit seiner alleinerziehenden Mutter, einer Lehrerin, die regelmäßigen Besuche von Museen aller Art und natürlich die Schulzeit mit sowohl guten als auch schmerzvollen Erlebnissen, wie so manche ungute Begegnung mit Klassenkameraden oder mit den Zornesausbrüchen eines Lehrers. Die Beschreibungen seiner Mitmenschen zeigen Liebe für das Detail und die Begabung, die Wesensart umfassend zu ergründen, und dass mit Menschenliebe und ohne Groll.
So weiß der Leser nach seiner Lektüre, dass Tranströmer, der am 15. April 1931 in Stockholm geboren wurde und im Alter von 23 Jahren mit einem Gedichtband mit dem Titel „17 dikter“ („17 Gedichte“) debütierte, fast kein Dichter geworden wäre. Sein Interesse galt zunächst den Naturwissenschaften, mit Begeisterung zeichnete er als Junge kleine und große Tiere. Sehr viel Eifer legte er da an den Tag. Erst später trieb die Liebe zur Literatur ihre Blüte, auch wenn seine ersten Ergüsse sehr moderner Art eher belächelt wurden. Doch die Beschäftigung mit den Klassikern der römischen Antike wie den Werken Horaz und deren Struktur brachten Veränderung in sein Schreiben. Die Entwicklung im Kindes- und Jugendalter zeigt sich so im Fluss, die von vielen Seiten „beeinflusst“ wird. Doch schon in dieser frühen Lebensetappe werden Weichen gesetzt, auch bei einem Künstler.
Das Werk des Schweden, der nach einem Schlaganfall nicht mehr sprechen kann, ist wie dieser dünne Band von 80 Seiten ein eher schlankes und schmales. Ein ebenfalls im Hanser-Verlag erschienes Buch mit sämtlichen Gedichten hat nur wenig mehr als 260 Seiten. Tranströmer gilt in seiner Sprache, in der Kreation von sprachlichen Bildern als Meister der Verknappung und Verdichtung. Doch unumstößlich: Auch seine Kindheitserinnerungen sind voller Poesie und streifen besondere Momente. Nur wäre zu hoffen, dass nach diesem faszinierenden autobiografischen Buch eines weiteres hinzukommt.
„Die Erinnerungen sehen mich“ erschien in der Edition Akzente des Hanser-Verlages in der Übersetzung aus dem Schwedischen von Hanns Grössel.
80 Seiten,
Preis: 11,90 Euro
das ist so dünn, dass ich es eventuell auch „schaffe“. Interessieren täte es mich ja schon…
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