„Etwas aufzuschreiben bedeutete, dem Fantasierten eine eigene Wahrheit zu verleihen.“
Die Insel bedeutet Zuflucht und später die Wende. Für Forschungen reist der Ethnologe Benjamin Merz nach Sizilien. Zurücklässt er nur wenig: die Wohnung unterm Dach im Haus seiner Eltern, die vier älteren Brüder, die sowieso nur mit ihren Bevormundungen nerven, sowie den hektischen Hochschulbetrieb. Mit dem Leben und den Einwohnern des sizilianischen Mandlica, einem idyllischen Städtchen an der Südküste gelegen, kommt er schnell zurecht, obwohl sich in den ersten Tagen beide Seiten – der Ethnologe und die von zahlreichen Ritualen und Bräuchen, wie der Herstellung der Dolci (Süßigkeiten), beherrschte Einwohnerschar – erst „beschnuppern“ müssen.Merz wohnt in einer Pension, die von zwei deutschen Schwestern geführt werden – von Maria und Paula. Während erstere versucht, Merz zu erobern, finden letztere und der Ethnologe schließlich zusammen. Und nicht nur diese wunderbare, seelenvoll erzählte Liebesgeschichte zeichnet den neuen Roman „Das Kind, das nicht fragte“ von Hanns-Josef Ortheil in Vollendung aus.
Randvoll ist dieses Buch mit Lebensgeschichten. Denn Merz ist ein Spezialist für die Menschen, ihr Leben, ihre Beziehungen, ihr Verhalten untereinander. Mit Hilfe des Buchhändlers Alberto bekommt er schnell Anschluss an die Einheimischen, die er in Gesprächen interviewt und die ihm schließlich sehr viel Respekt erweisen, allen voran der Bürgermeister, der ihn sogar für ein großes EU-Projekt einspannen will. Merz blickt hinter ihr Leben und ihren Alltag, entdeckt Verbindungen und sogar Geheimnisse, wie das des Restaurant-Inhabers und Marias Ehemann Lucio, der einst mit Paula verlobt war. Im Mittelpunkt steht indes vor allem Merz selbst, sein angespanntes Verhältnis zu seinen älteren Brüdern, die ihn nicht wirklich respektieren, ihn in seiner Kindheit und Jugend nahezu kaum zu Wort haben kommen lassen. Einzig die Eltern lassen Benjamin reden und hören ihm vor allem zu. Bei keinem anderen Menschen hat er das Gefühl auch im kommunikativen Sinne, aufgehoben zu sein. Bis eben Paula in sein Leben tritt, mit ihrer Gabe, die nicht viele Menschen auszeichnet.
Ortheil führt diese verschiedenen Geschichten, Themen und Zeiten mit Herz für seine Helden und viel Sprachgefühl zusammen. Man findet sich unweigerlich hineinversetzt in dieses Städtchen und in das Leben seiner charismatischen Bewohner. Fast riecht man die Orangen und Zitronen, spürt die sonnige Atmosphäre Siziliens. Es wäre nicht verwunderlich, wenn dank dieses Buches manch Reiseveranstalter eine erhöhte Zahl an Sizilienreisen verzeichnet. Doch gegen diese Idylle setzt Ortheil die Vergangenheit von Merz, seine daraus entstandenen Selbstzweifel und sein Leben mit dem Fuß auf dem Bremspedal. Seine spätere Entscheidungskraft, die ihm schließlich den Lebensweg öffnen wird, entlässt den Leser zum Schluss schließlich positiv gestimmt aus der Geschichte, ohne in Kitsch und seichter Romantik abzugleiten. Ganz im Gegenteil: „Das Kind, das nicht fragte“ ist ein warmherziges und weises Buch, das einen rührt und vieles lehrt und ganz nebenbei zu einer wundervollen Reise nach Sizilien einlädt. Begleitet wird das Buch und das Geschehen im Übrigen von Auszügen aus Gedichten des sizilianischen Lyrikers und Nobelpreisträgers Salvatore Quasimodo (1901-1968). Wer Ortheils wunderbares Schreiben – er wurde unter anderem bereits mit dem Thomas-Mann-Preis ausgezeichnet – noch nicht kennt, für den könnte dies eine zweite Entdeckung sein.
Der Roman „Das Kind, das nicht fragte“ von Hanns-Josef Ortheil erschien 2012 bei Luchterhand.
432 Seiten, 21,99 Euro
ich habe noch nie einen Ortheil gelesen (ging immer davon aus, dass er doch recht gefühlig und seicht sei) – aber es scheint möglicherweise ein Versäumnis zu sein…
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