Der weiße Planet – Barry Lopez "Arktische Träume"

„Der gefrorene Ozean selbst wälzt sich in seinem Winterschlaf wie ein Drache.“ 

Es ist das Land abseits jeglicher Vorstellungen und des ewigen Eises, wo der Tag oder die Nacht endlos ist, wo alles in Bewegung erscheint oder im tiefen Schlaf versinkt. Der amerikanische Naturforscher Barry Lopez, 1945 in Port Chester geboren, war während seiner zahlreichen Reisen über den Polarkreis hinweg Teil dieser arktischen Welt. Seine Erlebnisse und Gedanken, sein Wissen über das Eisland hat er in seinem Buch „Arktische Träume“ zusammengefasst. Sein Werk ist dabei nicht irgendein Sachbuch, das staubtrocken und unemotional nach Erklärungen sucht, es hat, 1986 erschienen, den National Book Award erhalten und damit einen der renommiertesten Literatur-Preise. Und das nicht umsonst. 

Thematisch spannt Lopez dabei einen weiten Bogen. Er beschreibt die Pracht der Eisberge und das faszinierende Polarlicht sowie die Besonderheiten des biologischen Systems, seiner Artenvielfalt und seiner extremen Sensibilität gegenüber jeglichen Veränderungen, um in diesem Zusammenhang besondere Vertreter der Fauna vorzustellen, die dank ihrer Gestalt und ihrem Verhalten über Jahrhunderte Stoff für Mythen und Geschichten gaben, wie der  mächtige Eisbär, der einzigartige Narwal, die kolossartigen Moschusochsen. All jene Arten und ihre Mitbewohner vereint dabei ein spezielles Merkmal: eine enorme Angepasstheit an die unwirtlichen Verhältnisse.

Obwohl sich der Amerikaner als Forscher damit als Experte von Fakten und Daten erweist, zeigt sich Lopez sowohl in seinen wissenschaftlichen Beschreibungen als auch in seinen anschaulichen Erlebnisberichten immer wieder emotional ergriffen, dankbar für die Erlebnisse und voller Respekt vor dem Land und seinen Bewohnern. Auch die verschiedenen Ureinwohner schließt er damit ein, die noch vor wenigen Jahrzehnten von Arktisforschern als minderwertig betrachtet worden waren. Auch sie stehen im Fokus des Buches, das sich in mehreren Kapiteln zudem mit der Entdeckung und Erforschung der Gebiete von den Anfängen im Mittelalter bis in das 20. Jahrhundert beschäftigt, vor allem von dem Wunsch der Durchfahrung der Nordwestpassage und den unzähligen tragisch gescheiterten und kräftezehrenden Expeditionen erzählt. Dabei hätte das Wissen der Inuit so manches Leben gerettet, ein Wissen, das auf jahrhundertalte Erfahrungen sowie dem Einklang der Menschen mit der Natur und dem Respekt vor jedem Leben basiert.

Doch das an vielen Stellen ungemein poetische Werk mit seinen etwas mehr als 500 Seiten vereint  nicht nur ungeheuer viel Wissen. Es ist vielmehr ein Plädoyer, die Arktis mit anderen Augen zu sehen, ihren Reichtum und ihren dringenden Schutz nicht zu vergessen. Denn was auf den ersten Blick wie ein leeres, kaltes und ödes Land mit viel Eis erscheint, ist eines der naturbelassensten Gegenden der Erde, auch wenn vor allem die Industrie auf der Suche nach gewinnträchtigen Bodenschätzen den weißen Planeten und seine Einzigartigkeit bedrohen.

Am Ende des Buches erzählt Lopez von einer besonderen Szene: Allein steht er am Ufer des Bering-Meeres. Über ihn fliegen Eismöwen hinweg, Er sieht Grauwale, das Kielwasser einer Robbe. Von dieser Stille und einzigartigen Landschaft  umgeben, schreibt er: „Ich verbeuge mich vor dem, was keine beratende Legislative, kein Parlament kennt, keine Religion, keine miteinander konkurrierenden Wirtschaftstheorien, vor dem Ausdruck der Verbundenheit mit dem Geheimnis des Lebens.“ Es ist nur einer von vielen Sätzen, die den Leser sehr berühren. Für all jene, die sich für die Arktis interessieren, ist das Buch von Lopez ein Muss im Bücherregal, bei allen anderen könnte und sollte das Werk für ein Umdenken, für einen anderen Blick auf das weiße Land sorgen.

Das Buch „Arktische Träume“ erschien 1986 erstmals mit dem Originaltitel „Arctic Dreams. Imagination and Desire in a Northern Landscape“. Neben dem btb-Verlag hat der Fischer-Verlag das Buch in der Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ilse Strasmann herausgegeben.
528 Seiten mit Illustrationen, 9,95 Euro

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