Die Musik macht Helden – Sarah Quigley "Der Dirigent"

Die einst schöne Stadt hat sich zu einem Vorhof der Hölle verwandelt. Leningrad ist eingekesselt. Die Wehrmacht steht vor den Toren. Bomben fallen, Häuser sind zerstört, in den Straßen liegen Leichen. Wer (über)lebt, muss Hunger erleiden. Menschen sterben an Unterernährung und Krankheit. Manch einer wird zusammengeschlagen, weil er einen Laib Brot nach stundenlangem Warten ergattert hat. Andere verspeisen Katzen oder Ratten, um zu überleben. Mittendrin in diesem Ort der Zerstörung und des Todes die kulturelle Elite des Landes. Allen voran der Komponist Dimitri Schostakowitsch, der sich weigert, mit dem Gros der Künstler aus der Stadt gebracht zu werden. Zum Leidwesen seiner Frau und den beiden Kindern. Doch Schostakowitsch will Leningrad nicht verlassen, all zu viel hat er der Stadt zu verdanken, all zu viele Erinnerungen und enge Freundschaften verbindet er mit ihr. Während er am Tag seinen Dienst als Brandwache ableistet, schreibt er des Nachts an seinem besonderen Werk. Die siebente Sinfonie soll den Leningradern Kraft geben. 

Doch diese reale Geschichte kennt einen weiteren Helden, der mit dem Roman „Der Dirigent“ der neuseeländischen Autorin Sarah Quigley eine besondere Würdigung erhält und aus der Vergessenheit geholt wird. Karl Eliasberg bringt die neue Sinfonie seines Landsmannes direkt in der eingekesselten Stadt während einer Radioübertragung zur Aufführung. Eliasberg gilt als verknöcherter Sonderling und Muttersöhnchen, das nichts Schlimmeres kennt als Unpünktlichkeit. Zu den anderen kulturellen Koryphäen der Stadt wie Schostakowitsch oder den Dozenten des Konservatoriums hat er ein eher gespaltenes Verhältnis. Als Dirigent steht er dem Rundfunkorchester vor, der zweiten Garde hinter der berühmten und anerkannten Leningrader Philharmonie. Aber auch das Ensemble rund um den begnadeten Dirigenten Mrawinski verlässt kurz nach dem Beginn der Belagerung die Stadt. Zu den realen Persönlichkeiten gesellt sich mit Nikolai zudem ein interessanter wie ebenbürtiger fiktiver Charakter. Der Geiger hat vor Jahren seine Frau verloren. Mit viel Hingabe kümmert er sich um seine neunjährige Tochter Sonja, die jedoch während einer Rettungsaktion für Kinder spurlos verschwindet.

So wie später die Sinfonie im Land und weltweit Begeisterung entfacht, löst das mehrsätzige Musikwerk bereits vor der Uraufführung bei Eliasberg einen nahezu unmenschlichen Tatendrang aus. Er ist es auch, der Schostakowitsch ermutigt, weiter an dem Werk zu schreiben. Später wird indes auch der Komponist die Stadt verlassen. Eliasberg hingegen versucht, sein Orchester zusammenzuhalten, das viele seiner Musiker, für die Armee gemustert oder bereits gestorben, verloren hat und durch Laien aufgefüllt wird. Die Partitur der Sinfonie wird schließlich mit Hilfe eines Flugzeugs in die Stadt gebracht.  So spielt vom Anfang bis zum Ende die Musik die erste Geige: Viele Passagen widmen sich der Kunst, die wie kaum eine andere Gefühle auszulösen vermag. Der ganze Roman ist erfüllt von ihr.  Deutlich wird auch jene Hingabe geschildert, die die Künstler ergreift, wenn sie in ihrer Arbeit, in einem Werk schier versunken sind – wie Schostakowitsch während des Komponierens, Eliasberg und Nikolai während der Proben, mit denen sie sogar an die Grenzen ihrer Kräfte gelangen.

Das Buch fesselt  mit einer facettenreichen Darstellung ihrer Protagonisten und einer bilderreichen Sprache inmitten eines kraftvoll strömenden Erzählflusses. Gegen die unmenschlichen Bedingungen, das Elend der Bevölkerung und ihre Todesangst, setzt die Autorin, die mit diesem Roman einen großen Erfolg in ihrer Heimat gefeiert hat, die Kraft der Musik. Die Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht und finnische Truppen vom September 1941 bis Januar 1944 zählt zu den bekanntesten wie entsetzlichsten Kapitel des Zweiten Weltkrieges. Während dieser Zeit starben schätzungsweise 1,1 Millionen Menschen.

Was jedoch den einen oder anderen womöglich irritieren wird, ist der Humor, der an zahlreichen Stellen durchklingt. Zudem blendet der Roman die Gewalt des stalinistischen Regimes fast völlig aus. Nur an wenigen Stellen wird diese Bedrohung kurz erwähnt. Alles in allem ist der Neuseeländerin ein spannendes wie berührendes Buch gelungen, das an einen in Vergessenheit geratenen Helden erinnert, die Musik und die Hingabe zu ihr auf besondere Art und Weise würdigt und eindrucksvoll beschreibt, wie Menschen trotz widriger Verhältnisse über sich hinauswachsen können.

Der Roman „Der Dirigent“ von Sarah Quigley erschien im Aufbau-Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Der Band enthält zudem einen Anhang mit Informationen zum Thema sowie einem Interview mit der Autorin.
398 Seiten, 9,99 Euro

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