„Religionen, moralische Prinzipien, auch ihre eigenen, waren wie Gipfel in einem dichtgefügten Gebirgszug, aus großer Entfernung gesehen: keiner eindeutig höher, wichtiger, wahrer als die anderen. Wie sollte man da urteilen.“
Das Leben eines Kindes ist fremdbestimmt. Da sind die Lehrer, Erzieher und vor allem die Eltern, die über das Wohl und den Weg eines Kindes entscheiden. Bekannt ist auch der Terminus Vormund, der aus dem Althochdeutschen stammt. Der Begriff „Munt“ bedeutet „Schutz“. In den meisten Fällen übernehmen die Eltern diese wichtige Rolle, manchmal jedoch mit ungeahnten und erschreckenden Folgen. Denn die Eltern selbst haben sich für ein Leben mit drastischen Regeln entschieden. Ihrer Religion wegen. Glauben und Glaubensgemeinschaften sind derzeit ein sehr brisantes Thema, meist jedoch mit Blick auf die Auseinandersetzungen zwischen ihnen. Der englische Autor Ian McEwan widmet sich in seinem neuesten Roman „Kindeswohl“ einer nicht weniger interessanten Facette. Wie beeinflusst die Religion das Familien-Leben und das ungefährdete Heranwachsen eines Kindes?
Fiona Maye ist Richterin am High Court Familiengericht in London. Die 59-Jährige beschäftigt sich nicht nur mit den alltäglichen Scheidungsfällen, bei denen es meist um sehr viel Geld geht, sich einstige Paare gegenseitig über den Tisch ziehen und ihre Zukunft finanziell abgesichert sehen wollen. Eine ganze Reihe Sorgerechtsstreitigkeiten, in denen über das Kindeswohl entschieden werden muss, stehen an. Da sind zwei Schwestern, die in einer streng gläubigen jüdischen Gemeinschaft aufwachsen, wo Internet, Fernsehen und modische Kleidung verboten sind. Da sollen zwei siamesische Zwillinge gegen den Wunsch der katholischen Eltern getrennt werden, um wenigstens einem der Jungen eine Überlebenschance zu geben. Und da ist auch ein muslimischer Vater, der seine Tochter entführt und außer Landes gebracht hat. Ein Fall soll jedoch Fiona besonders herausfordern: Ein Krankenhaus klagt die Möglichkeit ein, bei einem 17-Jährigen eine Bluttransfusion durchführen zu können. Der Junge ist schwer an Leukämie erkrankt und zählt zu den Zeugen Jehovas. Obwohl noch nicht volljährig, verweigert er die notwendige Behandlung wegen den theologischen Grundsätzen seiner Gemeinschaft – obwohl sein Tod droht.
Nicht nur feiern die Zeugen Jehovas keinen Festtag wie Geburtstage oder Weihnachten. In ihren Regeln befindet sich auch das Verbot, fremdes Blut in jeglicher Weise aufzunehmen. Selbst eine Eigenblutspende vor einer schweren Operation ist untersagt. Schätzungsweise acht Millionen Menschen nehmen weltweit an den Versammlungen teil, in Deutschland leben mehr als 160.000 Gläubige. In diesem schwierigen und komplexen Fall ist die Frage zu klären, was mehr wiegt: die Entscheidung des Jungen, der wenige Monate vor seinem 18. Geburtstag steht, die Behandlung abzulehnen, oder das Wohl des Jugendlichen, der voll und ganz unter dem Einfluss seiner gläubigen Eltern und den Regeln der Gemeinschaft steht.
Fiona fällt ihre Entscheidung nach einem intensiven Gespräch mit dem Jungen im Krankenhaus, das Leben geht weiter, alle Beteiligten scheinen zufrieden. Und an diesem Punkt könnte der geneigte Leser wie meine Wenigkeit beruhigt aufatmen – zufrieden und glücklich. Doch nicht jede Geschichte bekommt ihr Happy-End. Denn bekanntlich hält das Leben zu viele Überraschungen bereit, ist McEwan allzu sehr für seine Raffinesse bekannt. In nahezu all seinen Romanen schickt er die Handlung auf einen anderen Weg, einen nicht vorhersehbaren Pfad. Bevor diese Wendung geschieht, entwickelt sich die Spannung durch den zeitlichen Druck, der auf der Richterin liegt und zu einer Belastung wird. Sie muss schnell eine Entscheidung fällen, sonst drohen unwiderrufliche Schädigungen oder sogar der Tod des Jungen.
Neben diesem juristischen Fall blickt der Erzähler auf das private Leben der Richterin, auf ihren Werdegang, ihre steile und erfolgreiche Karriere. Im Mittelpunkt steht dabei vor allem die Krise in ihrer Ehe mit Jack, der sich mehr Aufregung und mehr Sex im gemeinsamen Zusammenleben wünscht und die Ehe gegen eine mögliche Affäre ausspielen will. Schließlich packt er die Koffer, verlässt das gemeinsame Heim. Doch während der erste rote Faden des Romans rund um den Fall des Jungen bis zum Schluss für Spannung und überraschende Szenen sorgt, scheint in diesem Part der Geschichte eher die Diplomatie zu entscheiden. So recht will mir der „gute Schluss“ da nicht gefallen, allzu glatt erscheint er mir.
Doch McEwan wäre nicht McEwan, wenn er dieses nahezu unscheinbare kleine Manko anderweitig aufwiegt. Neben diesem sehr nachdenklich stimmenden Thema über die Möglichkeiten von Gesetz und Gericht sowie die Regeln der Religion und die Frage nach dem Wohl des Kindes gewinnt das Buch durch seine Sprachkraft einen besonderen Zauber. Mit einer sehr genauen Wortwahl beschreibt McEwan die Stimmung während eines Gesprächsszene, das Aussehen und die Eigenheiten von Personen sowie Orte und Gegenstände mit einer Präzision, die ungemein fasziniert. Hinzu kommt ein leiser Humor, der nichts von der Ernsthaftigkeit dieses Thema nimmt, sondern vielmehr als Ausdruck des Menschlichen, ihrer Stärken und Schwächen, erscheint.
Was bleibt sind wirbelnde Gedanken in meinem Kopf: Der Roman regt an, über die Rolle der Religionen und ihren Einfluss auf jeden Einzelnen nachzudenken. Wann sollte die Glaubensfreiheit und der Respekt vor der Religion Grenzen haben? Sind einige Regeln von Glaubensgemeinschaften noch zeitgemäß? So ist „Kindeswohl“ mehr als nur der Bericht eines besonderen Falls. Das Buch schaut vielmehr über seine eigene Geschichte hinaus in die aktuelle Gegenwart, in der viele Kinder ihre Rechte auf Schutz, Fürsorge und Wohlergehen traurigerweise nicht wahrhaben dürfen.
Der Roman „Kindeswohl“ von Ian McEwan erschien bei Diogenes, in der Übersetzung aus dem Englischen von Werner Schmitz.
224 Seiten, 22,60 Euro
Liebe Constanze,
ich kann mich Deinen psoitiven Leseeindrücken nur anschließen. Allein die Gerichtsszene, in der alle Parteien versuchen sehr sachlich, sehr engagiert und mit Hilfe vieler Argumente, ihre Seite deutlich zu machen, ist ganz wunderbar geschrieben – ein Hoch auf den Rechtsstaat, der eine so ernsthafte Diskussion nicht nur zulässt, sondern geradzu einfordert. Und ein Hoch auf den Autor, der diese Szene so brilliant formuliert. Dass aber das sich hieraus anschließende Urteil eben genau nicht das Ende der Geschichte ist, hat mir auch sehr gut gefallen. Denn nun wäre es ja an der Gesellschaft, Angebote für Adam zu machen, sodass er eine neue Heimat findet. Die aber gibt es nicht für ihn, Fiona kann das nicht leisten – das wäre im Übrigen auch recht unprofessionell – und so nimmt sein Schicksal seinen Lauf. Gerade dieser Verlauf der Geschichte erscheint mir so wichtig, weil das Alleinlassen ja das Problem für viele Jugendliche aus sehr ideologisch geprägten Religionen ist, wenn sie denn diesem Kreis entkommen wollen. Und so zeigt McEwan nicht nur die Vorteile unserer Gesellschaft auf, sondern zeigt uns auch unsere Grenzen auf.
Viele Grüße, Claudia
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Vielen Dank, liebe Claudia, für Deine Zeilen und Gedanken.
Ja, diese Wendung fand ich sehr gelungen und sie fordert ja in ihrem letztlich traurigem Ende auch sehr viel Dramatik und Gefühl heraus. Und ich habe auch die Entscheidung Fionas nachvollziehen können, den Jungen abzuweisen. Etwas unzufrieden war ich jedoch mit dem Schluss, der ja mit einer Szene zwischen Jack und Fiona endet. Und gerade dieses eher positive Ende kam mir Mc-Ewan-untypisch daher und hat mich nicht so sehr überzeugt. Viele Grüße
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