„Hundertvierzehn Gedichte“ – ein Projekt des S. Fischer Verlags

Die Lyrik führt ein Nischen-Dasein. Wer in einer Buchhandlung nach einem Band mit Gedichten sucht, sollte entweder eine sehr große und namhafte aufsuchen oder kommt im Fall einer kleineren nicht um eine Bestellung herum. Doch womöglich ist diese Einschätzung gar falsch, weil nur einem einseitigen Blick auf das literarische Geschäft geschuldet. Denn geben die Vielzahl lyrischer Bände und auch der an den Lyriker Jan Wagner vergebene Preis der Leipziger Buchmesse im vergangenen Jahr nicht auch Grund zur Hoffnung? Nun wagt der S. Fischer Verlag (Frankfurt/Main) mit einem neuen Projekt seines Online-Magazins „S. Fischer Hundertvierzehn“ Vorhaben. Es geht eine besondere Verbindung ein – ganz nach dem Motto „Lyrik meets Web“.

„Hundertvierzehn Gedichte“ heißt es. Gestartet war es am 24. Februar. Es ist ein Gemeinschaftsprojekt von 100 Autoren sowie Kritikern, Wissenschaftlern und einem Zeichner. Bis zum 16. März, dem Vortag der Leipziger Buchmesse, werden an vier Tagen insgesamt 114 Gedichten auf der Internetseite des Online-Magazins zu lesen sein. Vorbild dafür ist die 1956 erschienene Anthologie „Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte“ des Germanisten, Kritikers und Schriftstellers Walter Höllerer (1922 – 2003). „Genau sechzig Jahre nach dieser spektakulären Unternehmung Höllerers möchten wir die deutschsprachige Lyrik der Gegenwart in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen“, so Oliver Vogel, Programmleiter Deutschsprachige Literatur bei S. Fischer. „Was Höllerer damals durch ein außergewöhnliches Buch gelungen ist, das in ganz persönlicher Weise die üblichen Formen von Gedichtsammlungen sprengte, erweitert sich nun sowohl in der Mehrstimmigkeit der Kommentare als auch in der offenen Kommunikation eines Online-Projekts.“

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Walter Höllerer (links) bei der Verleihung des Fontane-Preises mit Cornelia Froboess und Walter Rossow (1966). Foto: Wikipedia/Bundesarchiv

Nicht nur begleiten 100 Autoren, darunter große Namen wie Durs Grünbein, Uwe Kolbe, Friederike Mayröcker, Herta Müller, Marion Poschmann und Jan Wagner, das neue Projekt. Zur Seite werden den Texten, deren Verfasser erst in einem eigenständigen Verzeichnis genannt werden, Randnotizen gestellt – genau wie in Höllerers Band „Transit“. Mit Unterstützung des Verlegers Peter Suhrkamp war das Werk mit insgesamt 323 Gedichten 1956 erschienen – zwei Jahre nachdem Höllerer mit Hilfe des Verlegers Carl Hanser die erste Ausgabe des Literatur-Magazins „Akzente“ herausgegeben hatte. Ziel der Anthologie sei es gewesen, so Franz Mon in einem begleitenden Essay, die Vielfalt der Gegenwartsliteratur aufzuzeigen, einen breiten Blick auf das Schaffen aktiver Autoren zu werfen. Obwohl nicht alle Schriftsteller Eingang gefunden haben. Mon nennt unter anderem als Beispiel die Autoren, die vor Beginn des Ersten Weltkriegs aktiv waren, sowie jene der DDR und aus der Wiener Szene.  Die Randnotizen sollen dabei keine Deutung sein, sondern vielmehr „Wege zum Gedicht aufzeigen“, Reflexionen und Verweise auf die poetische Struktur des Textes vermitteln und eine weitere Lektüre-Möglichkeit sein. Und auch Höllerer selbst hatte ein Vorbild, wie Mon es in seinem Aufsatz beschreibt und auf „Menschheitsdämmerung. Symphonie der jüngsten Dichtung“, 1919 als Sammlung von Kurt Pinthus herausgegeben, verweist. Somit schaffen alle drei Sammlungen, die beiden vor Jahrzehnten erschienenen sowie die aktuelle, eine einzigartige Verbindung zwischen den verschiedenen Zeiten, die als gemeinsamen Nenner die Lyrik und ihren Gegenwartsbezug haben.

„In der Art von Fugen erweisen Gedichte weite Ausmessungen von Wirklichkeit dort, wo vor kurzem noch Wirklichkeit als abgesteckte Strecke selbstverständlich hingenommen, nachgedacht und nachgesprochen wurde. Worte, Verse bestätigen ja nicht nur; sie schaffen dem Bewußtsein ein neues Grad-Netz im noch nicht definierten Bereich von Wirklichkeit.“ (Walter Höllerer im Vorwort zu „Transit“)

Für die Randbemerkungen innerhalb des neuen Online-Projekts zeichnen neben den teilnehmenden Autoren  zudem Theresia Prammer, Ilma Rakusa, Insa Wilke, Michael Hofmann, Christian Metz, Hubert Spiegel und der Zeichner Papan verantwortlich. In der Projekt-Erklärung verweist das Online-Magazin auf das Anliegen ihrer Idee. Man hoffe, dass das Reden über Lyrik auch zum Lesen führt. Dass diese literarische Gattung Werbung braucht, verneint indes die Autorin Ann Cotten, die dem Projekt eine Absage erteilt hatte. „Ich gehe davon aus, dass Leute wie ich, die Sprache so lieben, sie von selbst entdecken, aber eher abgeschreckt werden, wenn sie ihnen mit einer Miene des Wohlwollens vorgesetzt werden“, wird sie eingangs in einem Vorwort zitiert.

Die Gedichte und Randnotizen werden neben dem Beitrag von Franz Mon von einem weiteren Essay begleitet werden, in dem Michael Braun die Möglichkeiten, über Lyrik zu schreiben, ausführt. Die insgesamt 114 Gedichte werden wöchentlich in Gruppen veröffentlicht. Die ersten 39 Gedichte bildeten am 24. Februar den Auftakt; folgend werden dreimal 25 Gedichte am 2., 9. sowie am 16. März erscheinen, die Kommentare und Notizen werden täglich erweitert. Trotz dieser besonderen Verbindung zwischen Lyrik und dem Internet und den damit verbundenen Möglichkeiten des Kommentierens und der Gelegenheit, der Entstehung von Gedanken beizuwohnen, bleibt dann doch ein Wunsch: Dass die Texte mit ihren Randbemerkungen den Weg in den gedruckten Zustand finden und in einer Neuauflage des Projektes, auch Lesern die Chance geboten wird, ihre Gedanken zu  den Gedichten in die Diskussion einzubringen.

„Hundertvierzehn.de“ war erstmals 2013 erschienen. Anliegen ist es, den Lesern Einblicke in das Zwiegespräch zwischen Lektoren und Autoren zu vermitteln. Mehr zum Online-Magazin des S. Fischer Verlags auf dem Blog „glasperlenspiel13“ von Vera Lejsek.

4 Kommentare zu „„Hundertvierzehn Gedichte“ – ein Projekt des S. Fischer Verlags

    1. Dies ist ein Grund, warum mir die Großstadt dann doch fehlt – die Auswahl an Buchhandlungen. In der Provinz, in den Kleinstädten ist es anders. Aber manchmal findet man selbst in jenen Buchläden doch die eine oder andere Perle. Viele Grüße

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  1. Was heißt denn da, Lyrik führt ein Nischendasein? Hören Sie mal Radio. Von morgens früh bis abends kommt da kaum was anderes. Klar, leider vieles auf englisch, oft geht es nur um Liebe und die Musik dazu ist oft fade. Trotzdem: es gibt ein Überangebot an Lyrik!

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