„Mein Mädchen, aus der Erde der Verzweiflung wachsen schlechte Blumen.“
Zwei Generationen treffen in einem Dorf im Westen Estlands aufeinander. Eines Tages findet die alte Aliide ein Bündel nur wenige Meter von ihrem Haus entfernt. Das Bündel erweist sich nach genauerem Hinsehen als ein Mensch. Es ist die junge Zara, die vor ihren Peinigern, zwei Zuhältern, geflohen war und sich in einem erbärmlichen Zustand befindet. Die eine nimmt die andere auf, beiden Frauen wohnen fortan unter einem Dach. Sie vereint ein trauriges Schicksal, das die finnische Autorin Sofi Oksanen in ihrem mehrfach preisgekrönten Roman „Fegefeuer“ auf atemberaubende und berührende Weise erzählt.
Beide haben Gewalt in ihren schlimmsten Formen erlebt. Aliide wird im Zweiten Weltkrieg mit der Eroberung des Landes durch die russische Armee gefoltert – mit dem Ziel Informationen über „stalinfeindliche Elemente“, Befürworter der Unabhängigkeit Estland oder auch deutschfreundliche Einwohner zu preiszugeben. Zahlreiche Menschen verschwinden in dieser Zeit. Auch die Eltern von Aliide und ihrer Schwester Ingel. Ingels Mann Hans, der kurzzeitig für die Deutschen kämpft und sich für die Unabhängigkeit seines Heimatlandes einsetzt, flieht in den Wald, um der drohenden Verhaftung zu entgehen. Doch Hans, in den sich auch Aliide verliebt hat und den sie noch immer heimlich begehrt, kehrt trotz der Gefahren zurück in das Dorf und zu Ingel, der Liebe und des gemeinsames Kindes wegen. Er wird von den beiden Schwestern im Haus versteckt. Rund 50 Jahre später erlebt Zara ihr eigenes Märtyrium. Sie gerät in die Fängen zweier Zuhälter, die sie aus ihrer Heimstadt Wladiwostok nach Berlin verschleppt haben. Hier schafft sie an. Als Prostituierte verliert sie ihre eigene Identität, wird zu einem Körper ohne Seele, der von den Männern auf jede nur erdenkliche Art missbraucht wird. Während eines Aufenthaltes in Tallin nutzt Zara die Gelegenheit, um ihren Peinigern zu entkommen, die ihr allerdings auf den Fersen bleiben und ihr Versteck ausfindig machen können.
Beide Geschichten flechtet Oksanen wie einen Zopf zusammen, sie verbindet die Schicksale beider Frauen und die verschiedene Zeiten der Handlung mit Rückblicken und kurzen vorausblickenden Andeutungen auf unheimlich kluge Weise. Eine ganz eigene, ja atemlose Spannung entsteht, da beide Lebenswege und Heldinnen nicht frei sind von Überraschungen und Schuld. In Zeiten der stetigen Gefahr und Gewalt bleiben den Frauen nur zwei Möglichkeiten: der Gewalt der Männer mit eigener Gewalt zu begegnen oder die Flucht anzutreten. Im Fall von Aliide ist es indes keine Flucht im herkömmlichen Sinne. Sie entflieht vielmehr, indem sie einen unerhörten Verrat begeht und sich anpasst, einen Kommunisten heiratet und mit ihm in das von Ingel und ihrer Tochter verlassene Haus einzieht. Ihre Form der Abbitte leistet sie, indem sie Hans weiter beschützt und am Ende auch Zara zur Seite steht. Erst spät erfährt sie, dass mit der jungen Frau nicht nur die Vergangenheit zurückgekehrt ist, sondern auch ein Stück Familie. Denn die junge Frau aus dem fernen Osten Russlands hat sich das Haus nicht zufällig als sicheren Unterschlupf ausgesucht, obwohl zu Beginn Aliide gegenüber ihrer Zufallsbekanntschaft sehr skeptisch ist und diese auch zu prüfen weiß.
„Wie könnte man einen solchen Ort verlassen, niemals, das könnte sie nicht. Diese Erde war ihre Erde, von hier war sie gekommen, und hier würde sie bleiben, von hier würde sie nicht weichen, davon würde sie nicht lassen, davon nicht, nicht von Hans und nicht von dieser Erde.“
„Fegefeuer“ ist dabei nicht nur ein intensiver und ergreifender Roman über zwei Frauenschicksale und ein literarisches Bilderkino mit teils drastischen und erschütternden Szenen. Er erzählt viel über die komplexe Geschichte eines Landes, das seine Unabhängigkeit erringen will. Estland und seine Bevölkerung werden mit Beginn des Zweiten Weltkrieges hin und her geworfen – je nach Kriegsverlauf fällt es in die Hände der deutschen Wehrmacht oder der Russen. Schließlich wird es mehrere Jahrzehnte unter russischer Herrschaft fallen, einen Teil der riesigen Sowjetunion bilden. Und in dem Dorf, in dem Aliide lebt, prallen die unterschiedlichsten politischen und weltanschaulichen Strömungen aufeinander, die für Spannungen und Auseinandersetzungen sowohl in der Dorfgemeinschaft als auch in Familien sorgen. Außerdem ist in dem Ort, der nur äußerlich wirklich idyllisch wirkt, der Aberglaube stark vertreten. Aliiede sucht mehrfach eine als Hexe verschriene Heilerin auf, die mit Tricks und Kniffen das Schicksal in die erwünschten Bahnen lenken soll. Nach Stalins Tod werden einige der Verfolgten rehabilitiert und aus den Lagern Sibiriens entlassen, aber das Land beginnt erst mit seiner Unabhängigkeit Anfang der 90er Jahre zur Ruhe zu kommen. Auch die Reaktor-Katastrophe in Tschernobyl findet Eingang in die Geschichte. Wie auch im Roman „Wildauge“ der ebenfalls finnischen Autorin Katja Kettu spielen geheime Dokumente und Briefe, die direkt in die Geschichte hineingestreut werden oder am Ende des Romans zu finden sind und die Identitäten von verschiedenen Personen aufklären, eine nicht unwesentliche Rolle.
Stilistisch besticht das Werk durch ein spezielles Merkmal: Der Leser gewinnt den Eindruck, das Geschehen und die Umgebung durch die Augen der Frauen, allen voran Aliide, zu sehen. Diese personale Perspektive lässt eine besondere Nähe zu den Protagonisten und der Handlung entstehen. Für ihren Roman „Fegefeuer“ ist Oksanen, Tochter eines Finnen und einer Estländerin, sowohl mit dem Finlandia- als auch dem Runeberg-Preis ausgezeichnet worden. Sie ist die jüngste Autorin, die mit einem dieser Preise geehrt wurde. Zudem erhielt sie für ihr Werk den renommierten Literaturpreis des Nordischen Rates. Dabei konnte der Roman nicht nur die Mitglieder mehrerer Jurys beeindruckt. Er wurde ein Bestseller in der Heimat der Autorin und in den USA und diente des Weiteren als Grundlage für eine Oper, ein Theaterstück und eine Verfilmung. Dieser beeindruckende Roman über Verrat und Schuld, Loyalität und Familienbande, die Kraft der Frauen und die Suche eines Landes nach seiner eigenen Identität macht nachhaltigen Eindruck. Persönlich bin ich gespannt auf weitere Lektüre aus der Feder der Autorin und werde dieses Werk so oft es geht vielen ans Herz legen.
Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „aus.gelesen“.
Der Roman „Fegefeuer“ von Sofi Oksanen erschien im Verlag Kiepenheuer & Witsch, als Taschenbuch im btb-Verlag, in der Übersetzung aus dem Finnischen von Angela Plöger; 400 Seiten, 9,99 Euro
Liebe Constanze,
offensichtlich geht Sofi Oksanen den schweren Stoffen sehr sehenden Auges entgegen. Mich hat Deine Besprechung sehr beeindruckt, die Autorin muss ich nun doch in naher Zukunft selbst lesend kennenlernen. Ich habe nun schon geraume Zeit „Als Tauben verschwanden“ im RUB stehen und auf „Fegefeuer“ hast Du mich nun auch sehr, sehr neugieirg gemacht. Vielleicht schaffe ich es ja über die nächsten Feiertage.
Viele Grüße, Claudia
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Vielen Dank für Deinen Kommentar, liebe Claudia. Der Roman hat mich – wie auch Kettus „Wildauge“ – ungemein begeistert und mich einmal mehr belehrt, wie interessant, tiefgründig und spannend die finnische Literatur sein kann. Ich werde den Namen Oksanen im Gedächtnis behalten und auch nach dem von Dir bereits erwähnten Roman „Als Tauben verschwanden“ Ausschau halten. Viele Grüße
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