„Wir sind dazu bestimmt, diese Welt mit zwei Augen zu betrachten, nur wir gemeinsam, denn ohne unsere Liebe ist diese Welt ein gähnender Lautsprecher, in dem der grausame und faulige Sturm des Todes brüllt.“
In Zeiten des Krieges verlieren selbst Orte der Idylle ihre Schönheit. Auch vor ihnen machen der Kampf und das Töten nicht halt. Deutsche Truppen, sowohl die SS-Elitegarde als auch die Wehrmacht, eroberten Europas Norden. Selbst das Gebiet oberhalb des Polarzirkels wurde besetzt. Eine besondere Geschichte aus dieser Zeit und aus jener Region hat die finnische Autorin Katja Kettu in ihrem Roman „Wildauge“ verarbeitet.
Erzählt wird von der Hebamme aus dem finnischen Petsamo. Von allen wird sie wegen ihres merkwürdigen Blickes „Scheelauge“ genannt. Ihr medizinisches Wissen hat sie von der samischen Naturheilerin Aune gelernt. Während deren Tochter Lispet in den Wehen liegt, die Hebamme sich um Mutter und Kind sorgt, betritt der SS-Offizier Johannes Angelhurst den Raum, um Fotos zu machen. Fortan verbindet die finnische Hebamme und der Deutsche in Uniform eine besondere Beziehung, die von Abhängigkeit und Anziehungskraft, schierer Besessenheit und Leidenschaft geprägt ist. Um ihm auch nach seiner Versetzung in das Durchgangslager Titowka nahe zu sein, lässt sich Scheelauge mit Hilfe des Schnapshändlers Jouni dorthin einschleusen. Ohne nur zu ahnen, dass das Lager ein Ort der Gewalt und Brutalität ist. Hier kümmert sie sich um die Gefangenen, Russen wie Finnen sowie Angehörige der samischen Bevölkerung, und macht mit Hilfe ihrer Untersuchung Juden unter den Häftlingen aus. Später wird sie erfahren, welche schreckliche Verbrechen sich hinter der Operation Kuhstall verbergen, die sie selbst verantworten und schließlich selbst, später als Gefangene, durchleiden muss. Und das ist nicht die einzige Schuld, die die Frau auf sich nimmt: Um sich ihrem Geliebten gewiss zu sein, schadet sie wissentlich ihre Kontrahentin – Aunes Tochter Lispet, die von Angelhurst Zwillinge erwartet.
Der dritte Roman der finnischen Autorin handelt sowohl von der Liebe zwischen zwei Menschen als auch von Hass und Unmenschlichkeit, die entsetzliche Taten, die die Grenzen jeglichen Verstehens sprengen, wahr werden lassen. Die Brutalität richtet sich gegen jede Generation, Kinder wie Erwachsene, gegen Mann und Frau. Immer wieder ein Thema des Buches: die faschistische Rassentheorie, die unter anderem auch Russen und Vertreter von Naturvölkern als Untermenschen betrachtet, allgemein in wertes und unwertes Leben unterscheidet. Johannes Angelhurst ist Teil dieser fanatischen Welt: Sohn eines Deutschen und einer Finnin hat er das Massaker 1941 im ukrainischen Babi Jar miterlebt. Seitdem plagt ihn ein psychisches Leiden, das er mit Hilfe der Droge Adolfin, ein Methadon-Opiat, versucht zu kontrollieren. Auch „Wildauge“, wie er die Hebamme nennt, hat vor ihrer Begegnung mit Angelhurst Schreckliches erlitten. Ihre Mutter ist bei ihrer Geburt verstorben, der Vater soll im Bürgerkrieg getötet worden sein. Aufgewachsen ist sie bei Bekannten ihrer Eltern, die sie schlecht behandeln. Auch der Vorwurf des Missbrauchs gegenüber der Pflegefamilie klingt an einigen Stellen durch.
„Und so ist es: Satan bekommt in dieser Welt nur selten seinen verdienten Lohn oder darf allzu lange seine Possen treiben. Zu lange deshalb, weil die schwachen und vom Krieg benommenen Menschen gar nicht darauf kommen, Widerstand zu leisten.“
Erzählt wird das Geschehen, das in den Jahren 1944 und 1945 zeitlich verortet ist, aus mehreren Perspektiven – aus der Sicht von Wildauge und von Angelhurst. Außerdem werden Aufzeichnungen eines Doppelspions hineingestreut, der vom Fjord des toten Mannes sowohl den Alliierten als auch den Nazis Bericht erstattet. Auch zeitlich springt die Handlung. Doch dies ist nicht das einzige Merkmal, für das man diesen Roman als außergewöhnlich und mutig bezeichnen kann. Es ist vor allem Kettus Sprache, die sich nuanciert zeigt und von einem reichen Wortschatz geprägt ist. Allerdings wird die stilistische Ausgestaltung des Werkes zweifellos die Leserschaft spalten. Denn die Finnin lässt zahlreiche Szenen der fessellosen Brutalität vor dem geistigen Auge des Lesers entstehen. Hinzu kommt, dass über sexuelle Handlungen mit sehr rauen und eher niederen Ausdrücken berichtet wird, jegliche sinnliche Erotik fehlt. Die beiden Wörter „Möse“ und „Schwanz“ tauchen wohl in keinem anspruchsvollen Roman der letzten Jahre so häufig auf wie in diesem. Feinfühlige Seelen werden davon womöglich abgestoßen werden und das Buch nach einigen Seiten zur Seite legen. Doch ganz anders hingegen die Art und Weise, wie poetisch und stimmungsvoll Natur und Landschaft kurzum die nordische Idylle am Eismeer geschildert wird. Interessant sind deshalb auch die Ausführungen der Übersetzerin Angela Plöger, die in einem Beitrag am Ende des Buches von ihrer Arbeit speziell an diesem Werk erzählt, das ihr so einige Herausforderungen von der Satzstruktur über Kettus Kunstwörter bis hin zu Dialekt-Wendungen bereitet hat. Zudem berichtet sie über den geschichtlichen Hintergrund – Informationen, über die man als Leser sehr dankbar ist.
Mit ihrem Roman stand Kettu wochenlang auf Platz eins der Bestsellerliste ihres Heimatlandes; womöglich deshalb, weil sie ein brisantes Thema auf mutige und außergewöhnliche Art literarisch verarbeitet hat. Lange Zeit galt in Finnland wie auch in anderen skandinavischen Ländern wie beispielsweise Norwegen Liebesbeziehungen zwischen einheimischen Frauen und den Deutschen als Tabu, über das in der Gesellschaft nur wenig geredet wurde. Erst seit einigen Jahren erfolgt eine Aufarbeitung des geschichtlichen Themas. Dabei ist der Roman nicht nur Fiktion, sondern basiert auf Briefen von Kettus Großmutter sowie realen Geschehnissen. Das Lager Titowka – insgesamt führten während des sogenannten Fortsetzungskrieges zwischen Finnland und Russland (1941-1944) die Deutschen als Verbündete allein im Bezirk Lappland 76 Lager – hat es wie die im Buch erwähnte Organisation Todt wirklich gegeben. Wie intensiv die Autorin recherchiert hat, belegt auch die Literaturliste im Anhang des Buches.
Der Roman „Wildauge“ von Katja Kettu erschien als Taschenbuch-Ausgabe im Ullstein Verlag, in der Übersetzung aus dem Finnischen von Angela Plöger; 416 Seiten, 9,99 Euro
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