Schattenwelt – Mathias Énard „Zone“

„(…) ich weiß nicht warum ich bedauere man bedauert so vieles im Leben Erinnerungen die manchmal wieder zu brennen beginnen Schuld Reue Scham die schweren Lasten der westlichen Zivilisation.“

Seine Zugfahrt wird zu einer Reise in die Vergangenheit. Der Geheimagent Francis Mirkovic sitzt im Pendolino von Mailand nach Rom. Er ist ein Reisender erster Klasse mit fremder Identität. Er nennt sich nach einem früheren Schulkameraden und jetzigen Psychiatrie-Insassen Yves Deroy. In seinem Koffer befinden sich Dokumente und Fotos von Kriegsverbrechern, die er über mehrere Jahre gesammelt hat. Nicht nur deren Geschichte treibt ihn um. Auch seine eigene Vergangenheit lässt ihn nicht mehr los. Allen voran sein Einsatz im Balkan-Krieg und seine spätere Spionage-Tätigkeit in der „Kampfzone“ zwischen Algier und Damaskus.

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Auf den ersten Blick erscheint alles sehr übersichtlich: ein Mann, ein Ziel, ein Zug. Doch der Roman „Zone“ des französischen Autors Mathias Énard hat es in sich. Nicht nur wegen seines Umfangs von etwas mehr als 600 Seiten. Vielmehr überschreitet dieses Buch sowohl inhaltlich als auch stilistisch Grenzen und setzt Maßstäbe. Der Leser erfährt die facettenreiche Gedankenwelt des Helden in Form eines einzigen inneren Monologs, der keine Sätze, sondern nur durch wenige Kommas gegliederte Passagen kennt. Erst am Ende wird der grafische Schlusspunkt gesetzt. Ausgenommen davon ist eine eingebettete Geschichte, die Francis alias Yves während der Zugfahrt liest und die von Intissar erzählt, die in den Kämpfen um Beirut zwischen Palästinensern und Israelis ihren Mann Marwan verloren hat.

In seinen Gedanken berichtet der Protagonist von seinem Plan, der ihn seit Jahren beschäftigt. Er hat „als Buchhalter, der über Leichen Buch führt“ für sein erhofftes Geschäft mit dem Vatikan und den Start in ein neues Leben Dokumente, Fotos und Listen von Kriegsverbrechern und Terroristen gesammelt, die für Tausende von Toten verantwortlich sind. Darunter Haupttäter des Holocaust sowie Führungsmitglieder faschistischer Organisationen wie der kroatischen Ustascha. Gerade mit diesem Land verbindet Francis viel. Die Familie seiner Mutter stammt aus dem Osten. Diese Wurzeln bringen ihn auch dazu, sich Anfang der 90er  als Söldner den kroatischen Truppen im Balkan-Krieg anzuschließen. Was er dort erlebt, wird ihn fortan prägen. Er wird Zeuge von entsetzlichem Gemetzel und verstörenden Kriegsverbrechen, an denen er selbst beteiligt ist. Während einer seiner engsten Gefährten stirbt, wird ein anderer zum Krüppel gemacht.  Nach einem längeren Aufenthalt in der Lagunenstadt Venedig wird er schließlich Bediensteter des französischen Nachrichtendienstes. Seine Aufträge führen ihn vor allem in den arabischen Mittelmeer-Raum – vom Libanon über Syrien bis nach Ägypten und Marokko. Hier sieht er, wie der Kampf zwischen den Religionen und verschiedenen weltpolitischen Interessen weitergeführt wird. Die Kriege werden ein Teil von ihm, die Frauen in seinem Leben, wie Marianne oder auch Stèphanie, lassen ihn allein zurück; weil er auch zu Depressionen und zu Alkoholexzessen neigt, er – wie im Übrigen auch sein Vater – von einer dunklen Vergangenheit umgeben ist. Der innere Monolog ist dabei nicht frei von Redundanz. Immer wieder kehrt der Held zurück zu Geschehnissen, Begegnungen und Personen, um ein weiteres Puzzle-Stück zum großen zeitenumspannenden Panorama hinzuzufügen, das einen markanten Kontrast zu dem sehr eingeschränkten Ort des Zugabteils setzt. Die Lebenslinien kreuzen sich wie Eisenbahn-Schienen mittels Weichen.

„(…) nichts von dem, was einmal zerstört wurde, kommt wieder, nichts wird neu geboren, weder verschwundene Menschen noch verbrannte Bibliotheken, weder zerstörte Leuchttürme noch ausgestorbene Arten (…).“

„Zone“ ist ein Buch über die Abgründe des Menschen, seine Schuld, seine Kriege, seinen unbändigen Hass, aber auch das Gefühl, ein winziger Part im großen Weltengetriebe zu sein. Der Blick von Énard schließt nicht nur die jüngsten Ereignisse ein, sondern dreht das Rad der Geschichte weit zurück – bis in die Zeit Napoleons, ja bis in die Antike. Denn in dem Gedankenstrom versammeln sich zahlreiche Hinweise auf die griechische Mythologie sowie auf biblische Geschichten. Oft ist vom griechischen Kriegsgott Ares sowie von Hades, dem Totengott und Herrscher über die Unterwelt, die Rede. Verglichen wird der Roman des Franzosen mit der „Ilias“ , Homers Epos über die Trojanischen Kriege. Beide bestehen aus 24 Kapiteln beziehungsweise Büchern. Francis alias Yves ist dabei als Erzähler nicht nur schonungslos mit dem Leser, denn er berichtet bildhaft und eindrücklich über die maschinelle Vernichtung in den Todeslagern während des Dritten Reichs und das blutreiche Geschehen an der Front und in diversen Schlachten. Er schließt sich selbst aus diesem düsteren Blick nicht aus. Schließlich ist er als Soldat und Spion ein nicht unwesentlicher Teil davon, der Schuld auf sich genommen und Menschen den Tod und unermessliches Leid zugefügt hat, aber zugleich die Schuld des Überlebenden fühlt.

Doch nicht nur inhaltlich ist „Zone“ keine einfache Lektüre, weil sie schlichtweg schmerzt. Es sind die unzähligen Verweise und Informationen auf die Geschichte, die diesen Roman zu einer beeindruckenden Lektion und großen Herausforderung werden lassen. Mit einer einmaligen Lektüre, um alles ausreichend zu verstehen, wird es wohl nicht getan sein, es sei denn man nimmt sich wirklich ausgiebig Zeit, um auch jeden Verweis – im Übrigen auch auf berühmte Autoren wie Ezra Pound und James Joyce – nachzugehen und nachzuschlagen.  Der innere Monolog liest sich trotz fehlender Satzzeichen indes ungemein flüssig und schafft es, eine nahezu unvergleichliche Sogwirkung aufzubauen, so dass man wie bei einem Schnellzug über die Seiten saust.

Énard, der sein Wissen über den Nahen Osten während seines Studiums und mehrerer langjähriger Auslandsaufenthalte gesammelt hat, war für seinen Roman, der 2010 in deutscher Übersetzung erschienen war, mit dem Prix Decémbre, dem Candide Preis und dem Prix du Livre Inter geehrt worden. Die Krönung dieser Auszeichnungen setzte er indes im vergangenen Jahr mit einem späteren Roman: Für „Boussole“ (übersetzt: Kompass) erhielt der Franzose mit dem Prix Concourt den renommiertesten französischen Literaturpreis überreicht.

Der Roman „Zone“ von Mathias Énard erschien sowohl als gebundene Ausgabe als auch als Taschenbuch im Berlin Verlag, in der Übersetzung aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller; 608 Seiten, 12,95 Euro

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